Psychosomatische Erkrankung und Evolution

Das Gehirn konserviert uralte Programme

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Urzeitliche Nervenschaltkreise stecken – zumindest rudimentär – noch in uns allen Bildmaterial:fotolia.com

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Jedes Lebewesen auf Erden hat eine viele Millionen Jahre währende Evolutionsgeschichte hinter sich. Seit Darwin wissen wir, dass die Arten wandelbar sind. Aus einer Existenzform kann sich über Tausende von Generationen eine neue entwickeln. Alle heute lebenden Individuen sind mehr oder weniger mit allen anderen verwandt – auch mit den bereits vor langer Zeit ausgestorbenen. Man kann Stammbäume aufstellen, um Verwandtschaftsverhältnisse zu dokumentieren. Diese Linien laufen zusammen – immer mehr, je weiter man an den Ursprung des Lebens herankommt.

DNA Doppelhelix

DNA Doppelhelix ©abhijith3747/ fotolia.com

Wenn Organismen sich im Laufe der Evolution verändern und neue Arten bilden, dann können diese Veränderungen von den Genen selber ausgehen oder – was häufig ist – von neu geschaffenen genähnlichen Strukturen, die etablierte Gene modifizieren oder gänzlich abschalten.

Die Phänomene der Epigenetik wären hier zu erwähnen. So war es nicht nötig, dass wir Menschen, die wir einmal Schwanz tragende Primaten waren, die Gene für eine Schwanz-Wirbelsäule verlieren mussten – um schwanzlos zu werden. Tatsächlich besitzen wir sie noch – manchmal kommt sogar ein Kind mit einer Schwanz-Wirbelsäule zur Welt.

Oder das Lanugo-Haarkleid des menschlichen Fötus – eine Ganzkörper-Behaarung – wie sie unsere Vorvorfahren vor sechs Millionen Jahre hatten; es verschwindet im Laufe der Embryonalentwicklung wieder; der Embryo stößt es ab, weil übergeordnete Kontrollgene wirksam werden. Funktioniert diese Steuerung nicht, werden Kinder geboren die am ganzen Körper behaart sind – für ihr ganzes Leben.

Diese Abschaltgene spielten wahrscheinlich auch bei der Evolution unseres Gehirns eine wichtige Rolle: Nicht mehr gebrauchte Nervenstrukturen konnten auf diese Weise beibehalten werden – aber die Wirkung “überkappender” Gene bremste sie in ihrer Funktion ab oder blockierte sie völlig. So entwickelten sich neue Arten, die sich nicht nur im Design von ihren Vorläufern unterschieden, sondern auch in ihrem Verhalten.

Psychosomatik und archaische Mechanismen

Gehirn

Gehirn – graphische Darstellung ©JohanSwanepoel/ fotolia.com

Jede Tierart auf unserer Erde – den Menschen eingeschlossen – hat eine ganz spezielle Natur, eine eigene Art bzw. ein Wesen, mit dem sie sich von allen anderen Arten unterscheidet. Ich meine damit nicht die Persönlichkeit eines Menschen, wie sie sich formt durch die Interaktion mit seiner sozialen Umwelt während der Kindheit, sondern seine biologische Natur, die in den evolutionär älteren Strukturen seines Gehirns zu finden ist. Das Mittelhirn mit seinem limbischen System ist der Sitz unserer Gefühls- und Motivationszentren, die uns empfinden und handeln lassen – so wie es unserer Art entspricht.

Die Strukturen im Mittelhirn setzen sich aus Untereinheiten zusammen – winzige Nervenmodule – kleinen Glassplittern nicht unähnlich, die – zusam- mengesetzt – ein wundervolles Mosaik ergeben.

So ein „neuraler Glassplitter” besteht aus einer Ansammlung von Tausenden oder Millionen einzelner Nervenfasern. Die Unterschiedlichkeit der Glassplitter kommt durch die Anzahl der beteiligten Nervenzel- len zustande und die Art ihrer Verdrahtung untereinander. Abermillionen synaptischer Verknüpfungs- möglichkeiten schaffen Gebilde von ungeheurer Komplexität.

Jeder dieser Glassplitter erfüllt andere Aufgaben: So reagiert ein spezielles Gehirnmodul beim Menschen dann mit Erregung, wenn wir versehentlich in eine Scheibe verschimmelten Brotes gebissen haben; es erzeugt unüberwindlichen Ekel, der uns veranlasst, auf der Stelle den Brocken auszuspucken. Ein anderes Gehirnmodul löst heftige Eifersucht in uns aus, wenn wir bemerken, dass sich unser Partner auf einer Party lang und breit mit jemand beschäftigt, der ihn total zu begeistern scheint.

Diese neuralen Funktionseinheiten starten Verhaltensprogramme die man als evolutionär-psycholo- gische Mechanismen bezeichnet und die die Aufgabe haben, Schwierigkeiten und Probleme zu beseitigen, die sich einem Lebewesen in den Weg stellen oder während seiner Evolution gestellt haben. Standartlösungen sozusagen für Schwierigkeiten und Lebensprobleme, die im Laufe der Entwicklungsge- schichte immer wieder aufgetreten sind. Menschen besitzen Hunderte davon – wahrscheinlich sogar Tausende.

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Eine biologisch nicht ganz korrekt dargestellte Entwicklungsreihe / Bildmaterial:fotolia.com

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Wenn sich über Abermillionen Jahre die Anatomie ganzer Tierklassen änderte, änderten sich natürlich auch deren Wesen und ihre Verhaltensweisen. Das heißt: Für die neuen Herausforderungen wurden nun neue „Glassplitter” entwickelt; entweder durch Neukonzeption oder durch Modifikation und Umrüstung der alten. Das „Mosaik” des Verhaltens veränderte sich dadurch entscheidend.

Was den Menschen anbelangt und was für unser Thema Psychosomatik so bedeutsam ist, ist zweierlei:

Erstens: Alte, ausgemusterte Schaltkreise aus der Vergangenheit werden in den Folgegenerationen trotzdem während der Embryonalentwicklung immer wieder angelegt – mehr oder weniger vollständig – aber in späteren Phasen der Gehirnentwicklung durch Hemmmechanismen unterdrückt. So entsteht Neues – das Alte aber bleibt trotzdem erhalten! Die Natur ist in dieser Hinsicht sehr, sehr konservativ.
Besondere Situationen während der kindlichen Entwicklung können nun dazu führen, dass elterliche Erziehungsmaßnahmen das Potenzial dieser schlummernden archaischen Schaltungen aktivieren und sie somit dem Gehirn wieder verfügbar machen.
Der Mensch als unspezialisiertes Lebewesen hat zu diesem Potential einen leichteren Zugang als jede andere Art.

Zweitens: Der Mensch des einundzwanzigsten Jahrhunderts bewältigt sein Leben mit einem Gehirn, das zum allergrößten Teil noch auf eine Lebensweise in der Steinzeit zugeschnitten ist. Das heißt: Wir sind auf das kulturelle moderne Leben, das wir heutzutage führen, biologisch gesehen, nicht sehr gut vorbereitet. Es wird Hunderte, ja wahrscheinlich Tausende von Generationen noch benötigen, bis sich das Interieur unseres Zentralnervensystems vollständig daran angepasst hat.

Die besondere Anfälligkeit des modernen, zivilisierten Menschen für eine Vielzahl psychosomatischer Erkrankungen, somatoformer Störungen und neurotischer Verhaltensweisen ist dadurch erklärbar; sie ist in dieser Form nicht gegeben bei den Stämmen der Ureinwohner, sofern sie die Zivilisation noch nicht erreicht hat.

Auch bei Tieren in freier Wildbahn gibt es so etwas nicht. Zwar können auch sie in Gefangenschaft an neurotischen Verhaltensauffälligkeiten leiden – in freier Natur jedoch stehen ihnen immer Mechanismen zur Verfügung, die sie aus Konfliktsituationen herausführen.

Archaische Nerven-Schaltkreise machen krank

Aktive Nervenzelle

Aktive Nervenzelle ©Sergey Nivens/ fotolia.com

Neurotische Verhaltensreaktionen bzw. psychosomatische Funktions- störungen und Erkrankungen treten in der Regel immer dann auf, wenn ein Individuum einer Konfliktsituation gegenübersteht, aus der es keinen Ausweg sieht. In diesen ambivalenten Situationen werden widersprüchliche Gefühle und Verhaltensintentionen aktiviert, die zueinander gegenläufig sein können. Diese unerträglichen Umstände stellen für ein Individuum Stresssituationen par excellence dar.

Die aufgestaute seelische Energie, die keine Ausdrucksmöglichkeit findet, setzt nun einen in der Kindheit aktivierten nervösen Schaltkreis aus der Urzeit unter Strom, der auf einer früheren Entwicklungsstufe des Menschen angepasst war.
Dieser neurophysiologische Mechanismus leitet die aufgestaute seelische Energie dann weiter in sein Zielgebiet, so wie er es ehedem vor vielen Millionen Jahren auch getan hat.

Diese neurophysiologischen Reflexschaltungen wurden aber von der Natur „erfunden“, um tierischen oder menschlichen Vorläufermodellen in prekären Akutsituationen aus der “Patsche” zu helfen. Da menschliche psychosoziale Belastungssituationen in modernen Zeiten aber häufig chronisch sind – also lang anhaltend – kann es zu einer Überforderung der Organe im Zielgebiet kommen und dadurch zu einer Erkrankung.

Nach den vielen theoretischen Erklärungen über neurophysiologische Mechanismen und archaische Reflexschaltungen – die den geduldigen Leser vielleicht etwas überfordert haben – möchte ich zum Schluss noch ein Beispiel aus der psychosomatischen Sprechstunde hinzufügen.
Das folgende Interview wurde auf der Basis der ideolektischen Gesprächsführung geführt – einer Technik – die von Professor Jonas entwickelt wurde.

Unerträgliche Schmerzen im Arm

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Da zwickts… ©Mircea.Netea/ fotolia.com

Herbert, 44 Jahre, von Beruf Vertreter und im Außendienst für eine Firma tätig, die Fenster und Türen produziert. Er kommt in die psychosomatische Sprech- stunde, weil er seit einem halben Jahr unter heftigen Schmerzen im Arm leidet, für die kein Befund von Seiten der Ärzte erhoben werden konnte. Sein Arzt weiß nicht mehr weiter und gab den Hinweis, dass vielleicht irgendetwas Seelisches hinter diesen Beschwerden stecken könnte.

Herbert, ein bulliger, athletischer Typ, kann sich das überhaupt nicht vorstellen – weil er sein Leben im Griff hat und alles andere als ein Weichei ist. Die unerträglichen Schmerzen die von der Schulter bis in die rechte Hand ziehen gefährden aber seinen Arbeitsplatz, weil er beim Fahren das Lenkrad nur unter größten Schwierigkeiten halten kann.

Der übermäßige Gebrauch von Schmerzmitteln hat zudem seinen Magen angegriffen und ihm zum Reduzieren gezwungen. Seitdem ist sein tägliches Vertreterpensum für ihn zu einer Qual geworden.

Nachfolgend ist das Interview beschrieben, das mit Herbert in der Eingangssitzung gemacht wurde. Es ist stark verkürzt und enthält nur die diejenige Passage, die zur Aufdeckung der Krankheitsursache geführt hat.

Berater: Können Sie bitte versuchen mir den Schmerz ein bisschen näher zu beschreiben, so dass ich mir ein Bild davon machen kann.

Herbert: Ja, wie soll ich sagen, der Schmerz fängt oben in der Schulter an und zieht bis in die Fingerspitzen. Ich kann den Arm nur waagrecht halten; weiter anheben geht nicht.
(während Herbert den Schmerz beschreibt, macht er ein paar Mal seine Faust auf und zu)

Berater: Sie sagen der Schmerz zieht bis in die Fingerspitzen. Ich kann mir unter dem Ziehen nicht so recht was vorstellen. Was meinen sie damit?

Herbert: Das ist doch ganz einfach, stellen sie sich jemand vor, der ihnen den Arm ausreißen möchte, ganz genau so fühlt es sich an (Herbert macht dabei wieder die Faust auf und zu und bewegt dabei den Arm hin und her). Das ist schon komisch (er lächelt), das erinnert mich an meine Jugendzeit. Ich stamme ja aus Oberbayern; ich war ein richtiger Raufbold und Tunichtgut; in den Bierzelten ist es immer hoch hergegangen. Ich war früher sogar bayerischer Vizemeister im Fingerhakeln und an genau dieses Gefühl hab ich mich jetzt wieder erinnert.

Berater: Also an eine Situation, wie wenn jemand sie über den Tisch ziehen wollte und sie müssen sich mit aller Kraft dagegen stemmen?

Herbert: Ja genau so, stimmt ganz genau!

Berater: (verhält sich abwartend, weil der Klient nachdenklich seine Faust betrachtet – die er immer noch auf und zu macht)
Ich habe den Eindruck, dass ihnen gerade etwas durch den Kopf geht, für das es aber schwer ist Worte zu Finden?

Herbert: Sie haben recht. Ich denke gerade an meinen Chef. Das ist ein richtiges A…loch. So ein junger Schnösel, wissen sie. Seit einem dreiviertel Jahr bei uns und will mir alten Hasen erzählen, wie man auf Kundenfang geht. Gar nichts weiß der, von Nichts hat er eine Ahnung. Aber eine große Klappe. So groß (macht eine Geste mit beiden Händen).

Berater: Ich kann mir schon vorstellen, dass man mit so jungen Chefs manchmal in Situationen kommt, die einen ärgern ( der Berater gebraucht absichtlich das schwach klingende ärgern, um Raum zu schaffen, den Herbert nur mit einer adäquaten Beschreibung seiner großen Wut ausfüllen kann)

Herbert: Ärgern!? Haben sie eine Ahnung. Was ich manchmal für Wut empfinde, das können sie sich nicht im Ansatz vorstellen. Den Idioten könnte ich manchmal mit meiner Faust bearbeiten, dass ihm Hören und Sehen vergehen würde.

Berater: Aber das können sie sich ja nicht erlauben – dieser Idiot ist ja ihr Chef.

Herbert: Da haben sie recht; aber ich muss mich mit aller Kraft zusammenreißen.

Berater: Wie macht man das eigentlich? Wie reißt man sich denn zusammen?

Herbert: In dem man sich anspannt und verkrampft.

Am Schluss dieses Interviews beschreibt Herbert in seinen eigenen Worten, was es mit den Schmerzen in seinem rechten Arm auf sich hat – er stellt seine eigene Diagnose.

Herbert wuchs, als einer von drei Brüdern, auf einem Bauernhof in Oberbayern auf. Als Jüngster musste er sich in einer ruppigen Umwelt behaupten und einiges einstecken. Die Eltern, eine wortkarge Bauern- familie, kämpften mit ihren kleinen Hof um Existenz und Auskommen. Die Kinder waren oft sich selbst überlassen und mussten in jeder freien Minute mit anpacken. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass in dem familiären Mikroklima das Recht des Stärkeren galt. Herbert wurde von den Größeren oft gehänselt und unterdrückt. Er rächte sich durch Gemeinheiten auf seine Art. In der Schule war es ähnlich. Als er größer wurde war er ein gefürchteter Raufbold, der die Unterdrückung, die er zuhause erfuhr, an anderen abreagierte. Eine schlimme Zeit – wie er selber sagte.

Aggressive Urinstinkte werden aktiviert

Aggressive Gruppendynamik

Brutale Schläger… ©Ljupco Smokovski/ fotolia.com

Aggressive archaische Mechanismen, die der Rivalität in menschlichen Gruppen zugrunde liegen, sind viele Millionen Jahre alt. In urzeitlichen Situationen regierte das Recht des Stärkeren. Erziehungsbestrebungen zielen normalerweise darauf ab, diese destruktiven Impulse zu kontrollieren oder sie in Bahnen zu lenken, wo sie Positives bewirken. Dies war in Herberts Kindheit nicht gegeben. Seine Erziehungssituation oder besser seine Nichterziehung brachte das ursprüngliche archaische Aggressions- potential zur vollen Entfaltung.

Geraten solche Individuen später – im Erwachsenenleben – in Situationen, die ihre aggressiven Gefühle maximal mobilisieren, werden die entsprech- enden muskulären Bereiche auf eine gewalttätige Endhandlung vorbe- reitet, d.h. der Muskeltonus der betroffenen Körperreaktion steigt stark an.

Verbietet sich die Endhandlung – wie in unserem Beispiel – und ist auch eine befriedigende Auseinandersetzung auf der verbalen Ebene nicht mög- lich, bleibt die Spannung ständig weiter erhalten. Sie steigt insgesamt sogar noch an, weil die antagonis- tischen Muskeln sich auch verkrampfen – diejenigen, die die Aggression zurückhalten wollen. Die Folge von dem Ganzen sind nicht auflösbare Muskelverkrampfungen, die mit Entzündungen und starken Schmerzen einhergehen.