Der Garcia-Effekt – evolutionäre Psychologie

Ein Meilenstein zur evolutionären Psychologie

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©Vera Kuttelvaserova/ fotolia.com

Für die Meisten sind sie einfach nur eklig. Mit ihren spitzigen Gesichtern und den kahlen, am Boden schleifenden Schwänzen, erzeugen Ratten Widerwillen und Abscheu – gewachsen in den Köpfen der Menschen seit Jahrtausenden. Im Mittelalter galten die in Scharen herum wuselnden Nager als Todesboten: Verderben, Siechtum und Leid bescherten sie den Bewohnern der Städte, deren Nähe sie unablässig suchten.

                   Ratten nicht nur eklig

In modernen Zeiten haben diese abstoßenden Kreaturen aber eine enorme Aufwertung erlebt; zumindest teilweise. Ganze Biologen–Generationen verdanken nämlich diesen ungeliebten Tieren Einsichten in das Wirken der Natur, die kaum eine andere Tierart ermöglicht hätte. Das fängt an bei dem hoch komplexen Sozialverhalten der Nager selbst und endet bei der Suche nach neuen Medikamenten, bei der diese Tiere geeignete Versuchskaninchen abgeben.

Ratten, man wird es nicht glauben, haben ein Sozialverhalten innerhalb ihrer Sippen, das als vorbildlich bezeichnet werden kann. Bei ihrer Beobachtung gewinnt man den Eindruck, dass es im ganzen Tierreich kein friedfertigeres Miteinander geben kann – als unter ihnen. Im Rattenrudel scheint keine Rangordnung zu existieren; beim Fressen sind Jungtiere frech und zudringlich und nehmen den Älteren die Nahrungs- brocken regelrecht aus dem Maul – was diese gleichmütig tolerieren.

Die Mitglieder dieser Sippen – die manchmal große Individuenzahlen erreichen – verbindet aber auch etwas ganz Besonderes miteinander: Sie stammen alle von einem einzigen Ausgangspaar ab und sind deshalb alle miteinander verwandt. Das Prinzip der Inzucht scheint bei Ratten keine Gültigkeit zu besitzen. Rattensippen sind Großfamilien – ihr Erkennungsmerkmal ist der Körpergeruch. Ratten, die nicht der eigenen Sippe angehören, ereilt ein grässliches Schicksal, wenn sie sich verlaufen und versehentlich in das Territorium eines anderen Stammes geraten: Sie werden als fremd erschnuppert und von den anderen zu Tode gebissen und zerfleischt. So drastisch wird selten im Tierreich mit Vertretern der eigenen Art verfahren.

Ratten sind äußerst intelligente und lernfähige Tiere; erworbenes Wissen nutzen sie nicht nur für sich selber, sondern geben es postwendend an andere Sippenmitglieder weiter. Dieses Weiterreichen von Erlernten und Erfahrenen nennt man in der Biologie die Tradierung von Verhaltensweisen – eben weil sich Traditionen dadurch herausbilden.

Ratten beim Futter wählerisch

Futtersuche und Nahrungsaufnahme sind für alle Lebewesen fundamentale Verhaltensweisen. Tierische Großfamilien, das ist klar, nutzen Nahrungsquellen immer auch gemeinsam. Hat eine Ratte eine Futterquelle entdeckt, profitieren auch die anderen davon; aber in der Regel nicht sofort. Ratten sind Allesfresser und deshalb auch in Gefahr, Futter zu fressen, das giftig ist oder nicht bekömmlich. Wenn sich nun die ganze Sippe auf eine neue Futterquelle stürzen würde und diese Nahrung vergiftet wäre, wären sie allesamt tot – auf einem Schlag.
Die Evolution hat den Ratten nun aber Verhaltensweisen „mitgegeben”, die diesen biologischen Supergau sehr unwahrscheinlich macht: Eine der Ratten macht immer den Vorkoster. Bleibt der am Leben, fangen Stunden später die anderen an, zögerlich vom unbekannten Futter zu fressen.

Hat eine Ratte ein neues Futter gefressen und bekommt Bauchweh davon, rührt sie dieses Futter ihr ganzes Leben lang nicht mehr an und die anderen natürlich auch nicht. Das ist das große Problem mit den Rattengiften, die wir Menschen einsetzen, um den Nagerplagen Herr zu werden: Stellen die Ratten einen Zusammenhang zwischen Tod und Futter her, hat das Gift seine Wirkung verloren, weil die Schlauköpfe die Köder meiden wie die Pest.

Behavioristen verneinen angeborenes Verhalten

Diese bemerkenswerten Lernleistungen der Ratten standen im Mittelpunkt der Experimente von Garcia und Koelling von der Universität in Berkeley im Jahre 1966. Diese Forschungsarbeiten sollten zu einem Meilenstein werden auf dem Weg zur evolutionären Psychologie – einer neuen Wissenschaft, die versucht, menschliches Verhalten im Lichte der Entwicklungsgeschichte zu sehen.

Gepardin mit Jungen

Gepardenidyll… ©Angelika Möthrath fotolia.com

Aus der Verhaltensbiologie war seit langem bekannt, dass Tiere nicht über gleichmäßig verteilte Lernfähigkeiten verfügen – was ja eigentlich nicht weiter verwunderlich erscheint, denn eine Fledermaus wird bei bestimmten Dressur- versuchen sehr wahrscheinlich anders abschneiden als ein Igel.

Diese Unterschiedlichkeiten wurden von amerikanischen Wissenschaftlern weitgehend ignoriert oder mit Fehlern bei der Versuchsdurchführung erklärt, weil der Zeitgeist, der damals in den Staaten herrschte, keine anderen Erklä- rungsmöglichkeiten zuließ. Dieser fußte auf den Theorien des Behaviorismus, der damals große Teilbereiche von Psychologie und Biologie beherrschte.

Der Leitgedanke dieser Wissenschaftsphilosophie war die Vorstellung, dass alle Lebewesen sich allein durch Lernvorgänge sinnvolle Verhaltensweisen aneignen. Behavioristen hatten in unzähligen Experimenten nachgewiesen, dass Belohnungen bestimmte Verhaltensweisen verstärken, genauso wie Strafreize Verhalten abschwächen oder vollständig unterdrücken kann.

Die behavioristischen Lerntheoretiker vertraten damals hartnäckig die Auffassung, dass alle Tiere, und auch der Mensch, in gleicher Weise lernen konnten und zu konditionieren waren. Unterschiedlichkeiten in den Lernauffassungen, die auf einer möglichen angeborenen Lernbereitschaft basieren könnten, waren ihnen keinen Gedanken wert.

Behavioristisches Dogma kippt

Auch Menschen haben Instiktprogramme

Auch wir haben Instiktprogramme… ©Cherry-Merry/ fotolia.com

Dieses behavioristische Dogma wollten Garcia und Koelling in Kalifornien durch einen eleganten Versuchs- ansatz ad absurdum führen; und dies gelang ihnen bravourös, weil sie an Ratten zeigen konnten, dass sogar ein und dieselbe Tierart einmal völlig „dumm” reagieren konnte und anscheinend nichts begriff und ein anderes Mal sich außerordentlich „schlau” verhielt. Diese Diskrepanz im Lernverhalten wurde auf eine angeborene Veranlagung zu- rückgeführt, die ihren Ursprung dem Wirken der Evolution verdankt.

Für die Interessierten unter Ihnen möchte ich dieses Experiment in verkürzter Form etwas näher beschreiben, weil es eine immense Bedeutung gehabt hat und den Niedergang des Behaviorismus in den Vereinigten Staaten einläu- tete. Dadurch wurde der Weg frei für ein anderes Denken, das zwar auch die Umwelterfahrung bei der Entwicklung des Menschen als außerordentlich we- sentlich einstuft, aber auch angeborene Verhaltensprogramme für gegeben ansieht, die aus dem Unterbewusstsein heraus das Verhalten beeinflussen.

Die Experimente von John Garcia und die Affen–Experimente von Harry Harlow (siehe unten) trugen entscheidend zum Aufschwung der evolutionären Psychologie in den Vereinigten Staaten bei.

Nun zu Garcias Ratten–Experiment:

Zentrales Thema der Versuche war die Menge des aufgenommenen Trinkwassers von Versuchsratten. Ratten benötigen, je nach Flüssigkeitsgehalt ihres Futters, Wasser in bestimmter Menge. Wenn Ratten unter Laborbedingungen Trockenfutter zum Fressen bekommen, ist der Wasserbedarf der Tiere pro Tag ganz erheblich. Laborratten trinken Wasser aus Flaschen mit einem speziellen Verschluss, der durch Lecken mit der Zunge Flüssigkeit durchsickern lässt. An Markierungen der Flaschen lässt sich die Wasseraufnahme der Versuchstiere problemlos ablesen.

Das Trinkwasser der Ratten wurde leicht gesalzen, sodass es geschmacklich für die Versuchstiere markiert war. Das heißt, die Ratten wurden gezwungen Wasser zu trinken, das einen für sie unbekannten Beigeschmack enthielt. Immer wenn sie an ihrer Trinkflasche nuckelten passierte noch etwas Anderes: Bei Berührung mit der Zunge erfolgte ein Ton und ein helles Licht. Stunden später wurden die Versuchstiere einer milden radioaktiven Strahlung ausgesetzt, die bei ihnen Übelkeit erzeugte, ähnlich wie wenn sie schlechtes Futter oder Wasser aufgenommen hätten.

Ratten lernen selektiv

Nachdem die Übelkeit bei den Ratten abgeklungen war, wurde in einer zweiten Versuchsserie getestet, was die Ratten aus dem Ganzen gelernt hatten. Die Menge an getrunkenem Wasser war der Gradmes- ser, mit dem getestet wurde, mit welchem Reiz die Ratten die Übelkeit verknüpften: Mit dem leicht versalzenen Wasser oder mit dem audiovisuellen Signal. Dazu wurden die Ratten in zwei Versuchsgrup- pen geteilt:

Gruppe 1 erhielt normales, ungesalzenes Wasser zum Trinken; jeder Trinkversuch war aber begleitet mit dem Signalton und dem Lichtblitz.

Gruppe 2 erhielt leicht gesalzenes Wasser ohne begleitenden Signalton und Lichtblitz.

Das Ergebnis war eindeutig:

Die Ratten der Gruppe 1 tranken das normale Wasser ohne Abneigung. Die begleitenden Signale hatten sie nicht mit der Übelkeit verknüpft, die sich im ersten Versuchsgang einstellte.

Die Ratten der Gruppe zwei hingegen tranken signifikant weniger Wasser, weil sie die Übelkeit aus der ersten Versuchsserie mit dem Geschmack des Wassers verknüpften.

Das Ergebnis bewies eindrucksvoll, dass die Ratten sich den Geschmack des Wassers viel besser merken konnten, als die anderen Umstände (Licht und Ton), die auch mit der Wasseraufnahme verbunden waren.

Nach der Lerntheorie des Behaviorismus hätten die Ratten aber keine Unterschiede im Trinkverhalten zei- gen dürfen, weil sie das eine wie das andere Signal gleichermaßen mit ihrer Übelkeit hätten in Verbindung bringen müssen. Diese Versuche wurden später von anderen Experimentatoren in modifizierter Form mehrfach wiederholt; die Ergebnisse waren jedoch immer dieselben:

Die Ratten hatten einfach eine unterschiedliche Gedächtnisleistung – eine Art vorprogram- mierte Furcht –, die ihrer Natur entsprach – angeboren war und evolutionären Ursprungs.

Tiere besitzen eben unterschiedliche Lernbereitschaften, die sich als verschiedene Anpassungen an unterschiedliche Lebenssituationen herausgebildet haben.

Drahtmütter sind nicht attraktiv

Harry Harlow und seine künstlichen Affenmütter

Harry Harlow und seine künstlichen Affenmütter

Auch der Biologe Harry Harlow wies nach, dass den Denkmodellen der Behavioristen erhebliche Defizite anhaf- teten. Berühmt sind seine anrührenden Experimente mit Rhesusaffen, die mutterlos aufwachsen mussten. In ihren Käfigen befanden sich zwei Ersatzmütter aus Draht. Eine davon war „nackt”, von denen erhielten sie ihre Milch. Die andere Drahtmutter hatte einen flauschigen Fellüberzug.

Immer wenn sie hungrig waren suchten sie die Drahtmutter zum Trinken auf. In der übrigen Zeit hielten sie sich über- wiegend bei ihrer bepelzten „Mutter” auf, die ihnen „Haut- kontakt” vermittelte. Spielten sie in ihren Käfigen und bekamen sie durch irgendetwas Angst, sprangen sie auf ihre Pelzmutter und klammerten sich an ihr fest – genauso wie sie es auch in der Natur machen würden (das Foto ist auf der Seite famouspsychologists.org veröffentlicht).

Die Lerntheorien des Behaviorismus würden aber die Vorhersage beinhalten, dass die Milch gebende Mutter in jedem Fall auch der Fluchtpunkt bei Gefahr sein müsste. Aufgrund angeborener, evolutionärer Verhaltensprogramme ist die Fell tragende Kunstmutter aber eindeutig die attraktivere – obwohl sie zum Milchgeben nicht taugt.

Die Erkenntnisse aus diesen Versuchen belegten eindeutig, dass sich Ratten, Affen und sicher auch Menschen, manche Verhaltensweisen leichter aneignen als andere. Existieren evolutionäre Lerndispo- sitionen, wird alles wie von selber gehen; existieren diese nicht, wird es überhaupt nicht klappen oder nur unter größten Schwierigkeiten.