Das Hyperventilationssyndrom – Online-Beratung

Hyperventilationssyndrom – somatoforme Störung

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Wird sie es schaffen… ©Andrey_Arkusha/ fotolia.com

Die junge Frau schreckt aus dem Schlaf auf… da war ein Geräusch unten… sie ist plötzlich hellwach… Schritte sind zu hören und knirschende Glasscherben… je- mand ist im Haus und sie ist ganz allein… Panik schießt hoch in ihr… keine Flucht- möglichkeit… sie muss sich verstecken… aber wo… hastig glättet sie ihr Bett… wirft eine Decke drüber… es soll unbenutzt aussehen…

Das Herz schlägt ihr bis zum Halse, als sie lautlos die Zimmertür öffnet und sich dahinter versteckt.

Der psychisch kranke Gewaltverbrecher hat sich unten mit einem Messer bewaff- net und steigt langsam die Treppe nach oben… er will nachsehen ob jemand im Haus ist. Die junge Frau hält den Türgriff fest umklammert; sie ist eingeklemmt zwischen Wand und Holz.

Die Augen weit geöffnet – mit flachen Atemstößen – lauscht sie auf die leisen Schritte, die immer näher kommen. Obwohl dies nur eine Filmszene ist und keine Realität, stockt allen Zuschauern der Atem, als der Unhold mit dem Messer das Zimmer betritt.

Körperliches und Seelisches ist eng verknüpft

Atemfrequenz, Herzrhythmus, Blutdruck, Darmtätigkeit usw. – praktisch das gesamte vegetative Gesche- hen hat eine enge Beziehung zum limbischen System des Zwischenhirns – dort wo unsere Gefühle ihren Ausgang nehmen. Der Volksmund „kennt” die Zusammenhänge zwischen Psyche und Körper und hat auf der Basis dieses intuitiven Wissens Redewendungen gebildet, die auf die Körperebene zielen – tatsächlich aber Gefühle zum Ausdruck bringen wollen. Mit allen Gleichnissen und Metaphern verhält es sich ähnlich: Ihre bildhafte Darstellung wirkt sehr viel eindrücklicher und intensiver als es der logisch-realistische Sachverhalt einer Situation je tun könnte.

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Ihr bleibt die Luft
weg… ©Robert Kneschke/ fotolia.com

„Da ist mir vor Schreck die Luft weggeblieben”, „Diese Angelegenheit liegt mir schwer auf der Brust”, „An Kummer und Sorgen werde ich noch ersticken”, „Bei dieser Sache habe ich keinen langen Atem” oder auch „Da musste ich erst einmal tief Luft holen”.

Diese Redewendungen bringen überraschend klar zum Ausdruck, dass beängstigende Situationen Einfluss auf die Atmung nehmen. Angst kann die Atmung blockieren aber auch das Gegenteil kann eintreten.

Wie ist so ein Paradoxon erklärbar? Evolutionspsychologisches Wissen ist auch hierbei der Schlüssel und führt zu der Annahme, dass irgendein Nutzeffekt hinter diesen Körperreaktionen stecken muss; wenn nicht in der Gegenwart, so doch in unserer evolutionären Vergangenheit.

 

             Sperrmodus aus der Urzeit

Wenn Lebewesen auf einen übermächtigen Feind treffen, haben sie prinzipiell drei Möglichkeiten zur Auswahl auf die lebensbedrohliche Situation zu reagieren: flüchten, sich verstecken bzw. sich todstellen oder kämpfen. Die letzte Option ist die unglücklichste; aber wenn eine Ratte z.B. in die Enge getrieben wird – von einer Katze oder einem Hund –, greift sie in einem Akt der Verzweiflung den Gegner an und kann, durch den Überraschungseffekt bedingt, durchaus mit dem Leben davonkommen.

Sich durch eine Flucht zu entziehen ist für jede Beute das Mittel der Wahl ihr Leben zu retten. Aber manchmal geht das nicht – wenn kein Fluchtweg existiert z.B. oder wenn die Beute zu jung ist um kraftvoll flüchten zu können. Dann hilft nur ein geschicktes Verstecken – wenn der Feind einen noch nicht erspäht hat – oder möglicherweise auch ein Todstellen, ein Reflex der auf der Seite zur Angina pectoris angesprochen wird.

Ein Verstecken ist umso effektiver, je regloser ein Tier in seinem Versteck ausharrt – bis die Gefahr vorüber ist. Tiere werden starr vor Angst und sie atmen dabei so flach als möglich, um sich nicht durch ein Heben des Brustkorbes zu verraten. Da aber das Herz rast und dadurch die Atmung mitgezogen wird, entsteht eine flache Hechelatmung mit leicht geöffnetem Mund.

Dieser Atemtypus existiert auch beim Menschen; er reicht weit zurück in seiner Entwicklungsgeschichte – bis zu tierischen Vorfahren – dutzende von Millionen Jahren vor unserer Zeitrechnung. Er aktiviert sich angesichts einer tödlichen Gefahr, wenn als letzte Chance nur noch die Möglichkeit bleibt sich zu verstecken.

Für einen Betroffenen wäre es vollkommen unmöglich – in so einer Situation – tief durchatmen zu können. Sein Brustkorb ist starr und blockiert dabei – wie mit einem Stahlband festgezurrt.

Sperrmodus entriegelt sich

Diese Situation ändert sich für ihn unter zwei Aspekten: Erstens, wenn der Feind verschwindet, weil er das Opfer übersehen hat oder zweitens, wenn er das Opfer entdeckt hat und angreift. Wird die junge Frau in der Eingangsepisode oben von dem psychopathischen Mörder entdeckt und attackiert, schaltet das vegetative Nervensystem sofort um und entriegelt den Sperrmodus ihrer Atmung; da ein Kampf auf Leben und Tod den Kreislauf maximal belastet, darf die Atmung dabei natürlich nicht klemmen.

Unsere Filmheldin hätte, hinter der Türe stehend, keinen normalen Atemzug zustande gebracht. Aber jetzt – nur zehn Sekunden später – rast sie um den Tisch, wirft Stühle beiseite und schleudert Gegen- stände in Richtung ihres Peinigers – mit keuchender Atmung und bebender Brust.

Hyperventilationssyndrom aktiviert sich

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Er ist verzweifelt… ©kmiragaya/ fotolia.com

Wie schon mehrfach angedeutet, schalten sich solche dramatischen Reflexme- chanismen nicht nur dann ein, wenn unmittelbare Gefahr für Leib und Leben besteht, sondern auch, wenn wir uns „nur” vor ideellen oder imaginären Ge- fahren fürchten, wie z. B. vor einem drohenden Objektverlust.

So kann es z. B. sein, dass ein junger Mann, dessen Beziehung gefährdet ist, in einen Zustand gerät, der ihn völlig hilflos macht: Er kann aus dieser Situation nicht flüchten – weil das für ihn einem Aufgeben gleich käme – aber auch nicht kämpfen, weil dadurch alles nur noch schlimmer wird.

Dieser unerträgliche seelische Zustand – diese Hilflosigkeit – kann nun jene neurophysiologischen Reflexe aktivieren, die auf den Plan treten, wenn das Unterbewusstsein die Einschätzung trifft, dass ein sich Verkriechen oder Verstecken die „Lösung” sein könnte.
Diese archaischen Symptome müssen aber nicht immer in ihrer vollen Ausprägung auftreten – auch ein stark abgeschwächter Modus kann noch für viel Aufregung sorgen, wenn er ein Hyperventilations- syndrom im Gefolge hat.

Bei Michael, 31 Jahre alt, ist das der Fall: Seine Ehe ist nach sechs Jahren in eine schwere Krise geraten. Seine Frau hat ihm eröffnet, dass sie sich fremdverliebt hat und nun nicht mehr weiß, wie es mit ihrer Ehe weiter gehen soll. Einerseits will sie die Beziehung mit Michael nicht leichtfertig aufgeben, andererseits hat sie starke Gefühle für den anderen Mann. Michael ist völlig verzweifelt, weil alles was er unternimmt um seine Ehe zu retten, schief zu laufen scheint. Seit einigen Wochen hat er noch gesundheitliche Probleme – die ihm den Rest geben.

Michael verspürt beim Atmen eine Art Reifen um seine Brust – wie er sich ausdrückt. Dieser Reifen lässt ihn nicht richtig durchatmen; irgendwie ist die Atmung blockiert. Lungenfunktionstests erbrachten keine pathologischen Befunde. Beim Atemtest bringt er genug Luft in die Lungen – aber es geht nicht so leicht wie sonst – irgendetwas zieht die Bremse.

Der Lungenfacharzt spricht von einer nervösen Atemstörung. Michael kann damit gar nichts anfangen. Das gibt es doch nicht – denkt er. Ich spinne doch nicht. Das bilde ich mir doch nicht ein. Ich spüre doch das Korsett um meine Brust – das ist doch da. Seine Ehe-Situation und jetzt das noch mit der Atmung – er ist in einer völlig verzweifelten Situation.

Hyperventilationssyndrom – ein dramatisches Ereignis

An einem Freitagabend kumuliert das Ganze zu einer Katastrophe. Seine Frau ist außer Haus – wahrscheinlich zusammen mit dem Anderen. Herbert liegt auf dem Sofa im Wohnzimmer und grübelt über seine Beziehung. Das Atmen fällt ihm plötzlich ganz besonders schwer. Angst nicht genug Luft zu kriegen schaukelt sich auf bis zur Panik.

Diese Panik hat sekundär eine starke Wirkung auf den Körper und aktiviert das archaische Notfallprogramm, das den Organismus auf eine gefährliche Situation vorbereiten soll. Unglücklicherweise spitzt der „vegetative Sturm” – der einsetzt – die Situation noch weiter zu. Aus Lufthunger atmet Herbert tief und angestrengt. Plötzlich verspürt er ein seltsames Kribbeln um den Mund, die Lippen fühlen sich taub an und die Zunge wird ihm schwer. Ist das ein Schlaganfall? Seine Finger werden seltsam gefühllos und kribbeln, und werden eiskalt – die Füße auch. Sein Mund zieht sich zusammen und verkrampft sich zu einer Art Schnute.

Er springt auf und geht umher. Sein Bewusstsein scheint eigenartig eingetrübt zu sein. Er hat das Gefühl wie auf Wolken zu gehen und irgendwie sieht er nicht richtig – Zacken und Kreise tanzen wild vor seinen Augen. Michael verspürt Todesangst und versucht einen Notruf abzusenden. Die zitternden Finger können die Tasten seines Handys nicht drücken und plötzlich krampfen sie sich so zusammen, als würden die Fingerspitzen zusammengeleimt sein. Michael trommelt bei seinem Nachbarn an die Tür – der den Notdienst verständigt.

Der Notarzt erkennt die Situation augenblicklich – so klassisch sind die Symptome: Hyperventilationssyndrom ist kurz und prägnant seine Diagnose. Er klärt Michael darüber auf, dass er nicht zuwenig atmet sondern zuviel. Sein Blut ist zu basisch, es fehlt an Säure; die verliert Michael über das viele Kohlendioxid, das er durch sein starkes Atmen in die Luft bläst. „Alles halb so schlimm! Jetzt machen wir erst einmal eine Kalziumspritze, weil das alkalische Blut das ionisierte Kalzium aufbraucht – deshalb die Krämpfe”.

Dann wird Michael aufgefordert in einen Plastikbeutel ein- und auszuatmen um das Kohlendioxyd wieder zurückzuführen. Ein paar Mal und dann wieder absetzen. Die unaufgeregte Art des Arztes beruhigt ihn zusehends und tatsächlich, die Füße und die Hände werden warm; die Krämpfe und das Kribbeln verschwinden. Nach einer halben Stunde ist der Spuk vorbei und der Arzt lässt einen ratlosen aber dennoch glücklichen Patienten zurück.

Weil seine Atmungsblockade ihn in die Irre geführt hat, ist es bei Michael zum Hyperventilationssyndrom gekommen: Das Gefühl nicht genug Luft zu bekommen hat ihn unbewusst dazu verleitet, viel zu schnell und viel zu flach zu atmen.

Anderer Typus des Hyperventilationssyndroms

Es gibt aber noch eine andere Form des Hyperventilationssyndroms: Hier existiert keine psychogene Atemsperre, die die Patienten durch eine verstärkte Atmung überwinden wollen, sondern hier wird unbewusst dauernd zuviel geatmet – auch in Ruhe. Wie oben erwähnt ist die Atmung des Menschen sehr stark durch Emotionen beeinflussbar. Gefühle der Hilflosigkeit, des Aufgebens und der Passivität können über den „Versteckreflex“ die Atmung behindern.

Andere Individuen, die sich einer problematischen Situation gegenüber nicht völlig hilflos fühlen, können – durch existentiell empfundene Schwierigkeiten – auch wenn diese nur in ihrer Vorstellung existieren, unbewusst zu einer kämpferischen Einstellung aufgestachelt werden. Diese aggressive Grundeinstellung kann archaische Programme aktivieren, die den Körper auf eine Kampfsituation vorbereiten wollen. Chronifizieren sich diese Prozesse, können Pulsfrequenz, Blutdruck oder Atemtätigkeit ständig erhöht sein – auch in Ruhesituationen. Solche Individuen sind dauernd in einen Zustand der erhöhten Reizbarkeit und deshalb ständig an der Grenze ein akutes Hyperventilationssyndrom zu entwickeln.

Spitzt sich eine emotionale, stressgeladene Situation zu, kann es schon nach kurzer Zeit zu Kribbeln und Krampfzustände an den Händen kommen, die aber bei richtigem Management schnell wieder verschwin- den. Diagnostisch ist dieses latente Hyperventilationssyndrom leicht zu prüfen: Lässt man solche Perso- nen unter Aufsicht eine kurze Zeit forciert atmen, entwickeln sie ganz schnell ein akutes Hyperventila- tionssyndrom.

Charakterdisposition beim Hyperventilationssyndrom

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Ängstlich depressive
Grundstimmung ©lassedesignen/ fotolia.com

Auffällig bei Personen die zur Hyperventilation neigen sind bestimmte Cha- rakterdispositionen, die man immer wieder antrifft. Meist sind es ängstlich depressive Menschen, die zur übertriebenen Selbstbeobachtung neigen; junge Frauen sind unter diesem Patientengut übernormal vertreten. Ihre Ängstlichkeit ist meist gut versteckt hinter pflichtbewussten und angepassten Verhalten; sie orientieren sich sehr stark an gesellschaftlichen Normen und Regeln.

In ihrem Gefühlsausdruck sind die meisten stark gehemmt – was ganz beson- ders für aggressives Verhalten gilt. Sie neigen deshalb dazu unangemessenes Verhalten anderer hinzunehmen – ohne dagegen aufzubegehren. Ihre Durchsetzungsfähigkeit im sozialen Bereich ist oft sehr gering; manche leiden an einer Sozialphobie und sind ausgesprochen schüchtern.

Aus ihrer ängstlichen Grundeinstellung heraus suchen sie sich „starke” Partner an die sie sich anlehnen können und die ihnen Sicherheit und Halt vermitteln. Sie wiederholen damit jene Abhängigkeitsbeziehung, die in ihrer Ursprungsfamilie gegeben war. Treten Lebensprobleme auf, im Beruflichen oder im Privaten, denen sie aufgrund ihrer emotionalen Unreife nicht gewachsen sind, werden sie von Ängsten überwältigt die dann das Hyperventilationssyndrom in Gang setzen.