Kreuzschmerzen – Psychosomatik – Online

Wenn eine seelische Belastung zur Last wird – die Kreuzschmerzen

Hexenschussfrau

Da sitzt der Schmerz… ©ArTo/ fotolia.com

Angespannt und mit Leidensmiene sitzt Martha im Wartezimmer. Eigentlich wollte sie den Termin absagen – ihre Kreuzschmerzen sind heute ganz besonders groß. Die Medikamente die sie dann braucht machen sie müde und teilnahmslos. Autofahren ist dann nicht drin; aber heute hatte sie den Wagen nehmen müssen und deshalb konnte sie nur die halbe Dosis Schmerzmittel einwerfen. Mit einem gequälten Lächeln betritt sie das Sprechzimmer. Auf die Möglichkeit hingewiesen, sich auch hinlegen zu können, antwortet sie, dass sie lieber Liegen möchte, weil Sitzen heute ganz besonders schmerzhaft ist.

Martha, eine attraktive Frau Anfang vierzig, legt sich umständlich und von Schmerzen gepeinigt auf eine Untersuchungsliege. Ihr ansprechendes Äußeres passt so gar nicht zum Krankheitsbild einer Lumbalgie, umgangs- sprachlich auch als Hexenschuss bezeichnet, den man eher alten und hinfälligen Menschen zuordnen würde.

Martha wurde von ihrem behandelnden Hausarzt darauf hingewiesen, dass hinter der Behandlungsre- sistenz ihrer chronischen Kreuzschmerzen etwas „Seelisches” stecken könnte. Um sich darüber Aufschluss zu verschaffen, suchte Martha die psychosomatische Beratung auf. Eine große Hoffnung der Ursache ihres Leidens auf die Spur zukommen verband sie jedoch nicht damit.

Mit der Eigensprache zur seelischen Wurzel der Kreuzschmerzen

Das folgende Interview mit ihr ist stark verkürzt wiedergegeben. Die Technik die dabei verwendet wird zielt hauptsächlich auf die Eigensprache des Patienten ab, weil er durch sie die „Arbeitsweise” seiner inneren Welt zum Ausdruck bringt. Der Interviewer achtet dabei besonders auf die Verben die der Patient verwendet, da sie sehr stark mit seinen Gefühlen verknüpft sind. Bei geschickter Fragetechnik wird so die Parallelität von seelischen Verarbeitungsprozessen und körperlichen Manifestationen transparent. Da der Klient bzw. Patient auf einer unbewussten Ebene „weiß” was sich in seinem Körper abspielt, dieses Wissen aber nicht akkurat in Worte fassen kann, wird er durch die eigensprachliche Interviewtechnik veranlasst – oft in einer metaphorischen Ausdrucksweise – seine eigene Diagnose zu stellen.

Interview mit Martha

(Um bei Martha nicht die Aufzählung der gesamten Krankheitsgeschichte zu starten, wird versucht, schon gleich zu Beginn, das Gespräch auf eine persönliche Ebene zu lenken, die viel aufschlussreicher ist, als das Herunterleiern der verschiedensten Behandler und ihrer erfolglosen Methoden.)

Interviewer: Es muss für sie besonders schwer gewesen sein, unter diesen Umständen in die Praxis zu kommen?

Martha: (lächelt gequält) Na ja, vor allem war es sehr schmerzhaft. Heute Morgen – beim Aufstehen – habe ich schon bemerkt, dass es kein guter Tag für mich werden wird. Die Schmerzen sind ja Gott sei Dank nicht alle Tage gleich schlimm. Aber heute sind sie es ganz besonders und ich konnte ja nicht die volle Dosis Schmerzmittel nehmen. Ich kann dann ja nicht Autofahren. Aber so im Liegen jetzt, da sind die Kreuzschmerzen erträglich.

(Martha benutzt das Wort erträglich, um damit zum Ausdruck zu bringen, dass sie die Kreuzschmerzen im Liegen aushalten kann; dass sie dann nicht so schlimm sind. Das Wort erträglich leitet sich vom Verbum tragen ab; etwas das unerträglich ist, kann dann nicht mehr getragen werden. Es ist keine Zufälligkeit, dass „erträglich” in unserem Wortschatz existiert, deutet es doch auf einen unbewussten seelischen Verarbeitungsmechanismus hin, der ihm zugrunde liegt; und wahrscheinlich ist es auch keine bloße Zufälligkeit, dass Martha jetzt dieses Wort benutzt.)

(Der Interviewer greift das vermeintliche Schlüsselwort auf und spielt es der Patientin wieder zurück. Hat das Wort für sie eine wichtige Bedeutung, wird sie es in ihrer Antwort abermals verwenden)

Interviewer: Es würde mich schon interessieren, wie sie es bewerkstelligen, mit Schmerzen, die nicht mehr erträglich sind, ihren täglichen Pflichten nachzukommen; zumal bei vorschriftsmäßiger Einnahme der Schmerzmedikamente sie ja müde und apathisch werden.

Martha: (Mit einem traurigen Ausdruck in den Augen) Diese Situationen sind für mich unerträglich. Ich muss die Schmerzmittel einnehmen, sonst kann ich gar nicht aufstehen und dann fällt es mir unendlich schwer, die Hausarbeit zu machen und für meine Familie da zu sein. Ich hab dann Null Energie – verstehen sie? Aber meine Familie unterstützt mich, wenn es mal wieder besonders schlimm ist.

Interviewer: Aber – noch mal gefragt – woher nehmen sie die Kraft dazu?

Martha: Ich weiß auch nicht, ich reiße mich dann halt zusammen, was soll ich denn sonst machen.

Interviewer: Was geschieht eigentlich dabei, wenn man sagt, man reißt sich zusammen? Wie macht man das?

(Marthas Blick wandert nach unten; sie fixiert ihre Fußspitzen; sie denkt nach; der Blick nach unten bedeutet, dass sie nach einer logischen Antwort sucht. Plötzlich hebt sich ihr Blick, nach oben zur Decke: jetzt kramt sie in ihrer Fantasie – das ist günstiger!)

Martha: Zusammenreißen? Zusammenreißen? Ja, das ist so, wie wenn irgendetwas am Auseinander- fallen ist, am Zerfallen besser gesagt und man will das verhindern; dann reißt man das zurück, damit es nicht davonfliegt oder so ähnlich.

(Martha ist auf der Basis ihrer Eigensprache der Psychodynamik ihrer Kreuzschmerzen schon sehr nahe gekommen. Mit der unpersönlichen Ausdrucksweise die ein Man-Satz ermöglicht schirmt sie sich noch leidlich von ihren Gefühlen ab, die dahinter stecken. Ihr Gesichtsausdruck wirkt aber schon sehr traurig)

(Der Interviewer versucht nun behutsam die Gefühle anzusprechen, die dem Ganzen zugrunde liegen – aber in einer indirekten Art und Weise.)

Interviewer: (Ganz vorsichtig!) Darf ich sie noch etwas fragen? (Martha nickt) Was könnte einem denn veranlassen etwas das weg will, zurückhalten zu wollen.

Martha: (Ganz leise Stimme; feuchte Augen) Weil dann doch alles kaputt geht, alles hat dann doch keinen Sinn mehr. Verstehen sie was ich meine?

(Die Patientin ist von ihren Gefühlen übermannt worden – Tränen stehen in ihren Augen.)

Kreuzschmerzen als Äquivalent einer Depression

Nachdem sie sich etwas beruhigt hat, ist sie in der Lage, etwas gefasster über die Problematik zu sprechen, die sie anscheinend krank macht: Ihre Familie ist am Auseinanderfallen, so jedenfalls empfindet sie das und sie ist verzweifelt bemüht, dagegen zu steuern. Ihre Zwillingstöchter gehen schon länger ihrer Wege und werden demnächst das Haus ganz verlassen. Der Ehemann ist als Betriebsleiter in einem mittelständischen Unternehmen beruflich stark eingespannt und zusätzlich in seiner Freizeit in zwei Vereinen aktiv.

Sie sagt: „Obwohl wir uns beide noch verbunden fühlen und sicher uns auch nicht trennen wollen – ist es eigentlich keine richtige Ehe mehr die wir führen; jedenfalls meiner Meinung nach; wir sehen uns ja kaum; wir werden eines schönen Tages noch in eine dicke Ehe-Krise schlittern. Wenn die beiden Mädchen dann noch weg sind, wird es einsam in meinem Nest und damit werde ich nicht fertig.”

Die Sorge um ihre sich auflösende Familienstruktur und die Angst vor drohender Einsamkeit und Bedeutungslosigkeit wurden für Martha zusehends zu einer Belastung.

Die sich entwickelnden chronischen Kreuzschmerzen sind die Somatisierung ihrer Depression. Die Kreuzschmerzen haben für sie trotz aller Belastung auch einen kleinen unbewussten Nutzen: Martha steht im Zentrum von Zuwendung und Aufmerksamkeit – trotz ihrer sich auflösenden Familie – wie sie sich ausdrückt. Durch ihre Erkrankung hält sie so unbewusst auch ihre Familie zusammen – sie reißt sie zusammen – wie sie es im Interview metaphorisch zum Ausdruck gebracht hat.

Der „Nutzwert” den die chronischen Kreuzschmerzen unbewusst für sie verkörpern, kann einer erfolgreichen medizinischen Behandlung mehr oder weniger im Wege stehen. Martha erkennt diese „Funktion” ihrer Kreuzschmerzen nicht auf der Verstandesebene. Die starken Schmerzen zwingen sie einen Arzt aufzusuchen – um Hilfe zu finden. Zugleich erkennt ein anderer Teil ihrer Persönlichkeit den „Nutzen” der mit den Kreuzschmerzen verknüpft ist und „wehrt” sich gegen deren Beseitigung.

Kreuzschmerzen und Teufelskreislauf

Wie bei allen psychosomatischen Krankheiten ist auch bei chronischen Kreuzschmerzen oft ein sich selbst verstärkendes System gegeben, bei dem Ursache und Wirkung vertauschbar erscheinen und die sich gegenseitig bedingen. Wie Martha so schön beschrieben hat, muss sie sich wegen der starken Schmerzen zusammenreißen um ihren Tagesablauf zu bewältigen. Dieses Zusammenreißen – auf der körperlichen Ebene – bedingt ein sich gegen den Schmerz Stemmen, was mit einer muskulären Verkrampfung einhergeht – die selbst wiederum Ursache der Schmerzen ist.

Urmenschen schleppten auf den Schultern Lasten

Unsere Vorgänger in der Steinzeit trugen Gesammeltes und Erjagtes sowie Holz und Steine zu ihren Behausungen. Der Mensch war sein eigenes Lasttier – und das über einige Millionen Jahre. Um Lasten zu Tragen und auszubalancieren müssen wir Schulter- und Rückenmuskulatur anspannen. Vor allem im unteren Teil der Wirbelsäule, dem Bereich der Lumbalmuskulatur, findet das Tragen von Lasten statt.

Wie bei anderen Körperfehlfunktionen auch können statt der ursprünglichen realen Auslöser, die in der Urzeit gegeben waren, in der Neuzeit Situationen, Gedanken und Gefühle beschwerend wirken und so zu einer Verkrampfung der Antigravitätsmuskeln führen.

Finanzielle Sorgen, Angst vor Arbeitslosigkeit, Untreue eines Partners, Rivalität und Mobbing unter Arbeitskollegen, können belastende Situationen darstellen, besonders wenn sie sich chronifizieren und dadurch andauernde Kreuzschmerzen auslösen. Solchen ungünstigen Sozialfaktoren kann man sich nicht so ohne weiteres entziehen. Da hatten es die Vormenschen schon besser: Wurde ihnen eine Last unerträglich konnten sie sie einfach von den Schultern werfen – und gut war’s.

In unserer Alltagssprache sind genügend Wörter und Begriffe vorhanden, die sich auf das Tragen imaginärer Lasten beziehen: erschwerend, beschwerend, belastend, unerträglich sind nur ein paar davon. Wir benutzen diese Wörter im Alltäglichen ohne uns der tieferen Bedeutung bewusst zu sein, die eigentlich dahinter steckt. Der Volksmund hat sehr viele Begriffe geprägt, die eine genaue Beschreibung dessen abgeben, was sich auf der seelischen und körperlichen Ebene bei uns Menschen abspielt.

Chronische Kreuzschmerzen führen zum Bandscheibenvorfall

Fotolia_43866841_XS

So sieht’s im Röntgenbild aus ©cirquedesprit/ fotolia.com

Chronische Kreuzschmerzen gehen immer mit Verspannungen einher, die die Versorgung der Bandscheiben mit Lymphflüssigkeit erschweren. Die Bandscheibe verändert sich dadurch mit der Zeit und wird anfällig für Verschiebungen und Verrutschungen. Sind diese nicht mehr reponierbar oder haben sich Fragmente gebildet, die in den Wirbelkanal vorgefallen sind, ist eine chirurgische Entfernung geboten. Der postoperative Heilungsverlauf wird aber entscheidend verzögert und negativ beeinflusst, wenn die ätiologischen Sozialfaktoren weiter eine wichtige Rolle spielen.