Der Schwindel – Vertigo – die Online-Beratung

Schwindel und seelisches Gleichgewicht

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Immer im Kreis
herum… ©pdesign/ fotolia.com

Sandra, achtundzwanzig, kommt aus einem kleinen Ort im Fränkischen. Sie sucht die psychosomatische Sprechstunde auf, weil sie seit knapp einem Jahr an unerklärlichen Schwindelattacken leidet, für die sich keine organischen Befunde erheben lassen. Ein Raum fordernder Prozess im Gehirn konnte durch die moder- nen Bild gebenden Verfahren sicher ausgeschlossen werden.

Die negativen Befunde wollten bei Sandra trotzdem keine rechte Freude aufkom- men lassen, weil der Schwindel ihr „ziemlich viel an Lebensqualität kaputt macht”, wie sie es ausdrückte und ohne eine greifbare Diagnose keine sinnvolle Therapie eingeleitet werden kann.
Da sie in einer Frauenzeitschrift gelesen hatte, dass sich hinter unerklärlichen körperlichen Symptomen oftmals seelische Ursachen verbergen, wollte Sandra durch eine Besprechung herausfinden, ob das auch bei ihr der Fall sein könnte.

Ursachen des Schwindels liegen im Verborgenen

Grundsätzlich haben wir Menschen intuitiv Kenntnis über Vorgänge, die sich in unserem Körper und in unserem Geist abspielen – ganz besonders wenn psychosomatische Krankheiten beteiligt sind. Das bedeutet, dass jeder Patient im Grunde „weiß” was mit ihm los ist, er dieses Wissen aber nicht in einer korrekten und konkreten Sprache zum Ausdruck bringen kann.

Diese innere Weisheit eines Menschen – die alle seelischen und vegetativen Vorgänge erfasst – liegt auf einer mentalen Ebene, zu der es keinen direkten Zugang gibt – aber einen indirekten!
Unsere seelische Befindlichkeit hat in Freud und Leid das Bedürfnis sich auszudrücken. Auch in ein ganz normales Alltagsgespräch fließen viele Informationen über unseren Gemütszustand mit ein, weil es für unsere seelische Gesundheit so wichtig ist, dass wir Gefühle zum Ausdruck bringen.

Ein Berater oder Therapeut, der ein Gespür für diese versteckten Informationen entwickelt, kann durch eine geschickte Fragetechnik, die genau auf die Eigenarten des jeweiligen Patienten eingeht, dieses innere Wissen an die Oberfläche bringen. Ein Patient bzw. Klient kann so dazu gebracht werden, seine eigene „Diagnose” zu stellen; nicht in der korrekt formulierten Weise eines Arztes – aber sehr eindrucksvoll und mit Wortgebilden die Metaphern ähneln oder Redewendungen, wie sie der Volksmund kennt.

Im Folgenden ist verkürzt das diagnostische Interview wiedergegeben, das in der psychosomatischen Sprechstunde mit Sandra geführt wurde, die wegen ihrer häufigen Schwindel-Attacken vorgesprochen hatte.

Interviewer: Sandra, würden sie bitte in ihren eigenen Worten erzählen, wie sie die Schwindelattacken erleben.

(Sandra wird mit dieser Fragestellung aufgefordert ihr subjektives Empfinden zum Ausdruck zu bringen, das erste Einsichten in die Psychodynamik ermöglichen könnte.)

Sandra: Also, es ist so: Zuerst verspüre ich eine leichte Übelkeit verbunden mit einer Schwäche in den Beinen und dann fängt es an, sich im Kopf zu drehen und dann wird es mir richtig schlecht, sodass ich mich hinlegen muss. Wenn ich dann ganz ruhig liegen bleibe und die Augen geschlossen halte, bessert sich der Schwindel. Sobald ich mich aufrichte, dreht sich wieder alles um mich herum.

Interviewer: Sie haben erwähnt, dass es anfängt sich im Kopf zu drehen. Was ist das, was sich im Kopf anfängt zu drehen?

Sandra: Bei uns auf dem Dorf gab es an Kirchweihtagen ein Karussell für Kinder; das war mein Lieblingsfahrgeschäft; da wollte ich gar nicht mehr runter. Nach fünf oder sechs Fahrten hintereinander konnte ich anschließend gar nicht mehr gerade laufen, so duselig war mir. Genau so fühle ich mich bei meinen Schwindel-Anfällen.

Interviewer: Wenn ich sie richtig verstanden habe, könnte man bei ihnen künstlich einen Schwindel auslösen, wenn man sie herumschleudern würde?

(Der Interviewer hat die Metapher mit dem Karussell übernommen und bietet Sandra das „starke“ Verbum herumschleudern an, um weitere Aussagen von ihr zu bekommen.)

Sandra: Na ja, heutzutage reicht es schon aus, wenn man mich herumschubst, damit ich das Gleichgewicht verliere.

(Ohne dass ihr es recht bewusst geworden ist, hat Sandra mit diesem Satz ihre eigene Schwindel-Diagnose gestellt.
Das Schlüsselwort herumschubsen deutet auf die verminderte Fähigkeit hin, sich in sozialen Situationen behaupten zu können. Außerdem kann man sein Gleichgewicht verlieren und stolpern durch ein Geschubst werden ebenso wie durch einen Schwindel.
Wenn bei in Herden lebenden Säugetieren ein Tier krank oder verletzt ist, büsst es seine Fähigkeit ein, sich in der Herde behaupten zu können. Es wird von den anderen dann solange herumgeschubst, bis es an der Peripherie der Herde landet. Dort erweckt es die Aufmerksamkeit von Räubern – die ihrer biologischen Bestimmung nachgehen…)

Anmerkung:

(Sandra ist eine äußerst attraktive Person, und man hat einige Mühe sich vorzustellen, dass sie sich von anderen herumschubsen lässt und sich nicht zur Wehr setzen kann. Auch während des Interviews macht sie, trotz ihrer Krankengeschichte, einen relativ selbstsicheren Eindruck; sie spricht mit fester Stimme und lächelt sogar hin und wieder. Der Interviewer wird diese Diskrepanz ansprechen, in der Hoffnung, von ihr weitere Informationen zu bekommen, die auf soziale Konflikte hinweisen.)

Interviewer: Also, ich muss ehrlich sagen, auf mich machen sie nicht den Eindruck einer Person, die sich herumschubsen lässt – das kann ich mir ganz und gar nicht vorstellen.

Sandra: (Blickt jetzt sehr traurig – fast mit Tränen in den Augen) In meinem ganzen Leben hab ich mich behaupten und durchsetzen können. Für meine Standfestigkeit, auch schwierigen Chefs gegenüber, bin ich immer bewundert worden und mit Kollegen hatte ich nie nennenswerte Probleme (Sandra kann plötzlich nicht mehr weiter sprechen; Tränen stehen in ihren Augen). Aber in der Firma, in der ich seit eineinviertel Jahren bin, ist es die Hölle…….so was habe ich noch nicht erlebt. Ich habe mich schon auf drei andere Stellen beworben, bekam aber Absagen, weil ich, so nehme ich an, meine gesundheitlichen Probleme erwähnt habe.

Interviewer: Sind es die Kollegen oder ist es der Chef?

Sandra: Die Kollegen; besser gesagt die Kolleginnen. Sie haben ja keine Ahnung, wie gemein Frauen sein können….

Schwindel durch Mobbing

Nachdem Sandra sich wieder einigermaßen gefasst hat, erzählt sie ihre Geschichte weiter und die Ursache ihrer Schwindelattacken erschließt sich dem Behandler mehr und mehr.

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So ein Mist… ©micromonkey/ fotolia.com

Die drei Damen, mit denen Sandra das Zimmer teilt, fühlten sich durch die Anwesenheit der attraktiven neuen Kollegin herausgefordert, da sie selber „graue Mäuse” sind, wie Sandra sich ausdrückte.
Die Jüngste der drei Kolleginnen, 23 Jahre, hatte große Minderwertigkeits- komplexe wegen ihrer Figur; die beiden älteren waren geschieden bzw. lebten in Trennung und hatten dadurch ein eher freudloses Privatleben. Und dann kam die Neue in die Abteilung – der die Männerherzen nur so zuflogen.

Sandra betonte im Gespräch immer wieder, wie freundlich und respektvoll sie sich von aller Anfang an den Kolleginnen gegenüber gegeben hatte, „eben weil ich weiß, wie die Stutenbissigkeit das Betriebsklima vergiften kann”. Leider fielen ihre Bemühungen um ein kollegiales Miteinander nicht auf fruchtbaren Boden.

Schlimm wurde es, als Männer anderer Abteilungen sich unter irgendwelchen betrieblichen Vorwänden in Sandras Büro blicken ließen – nur um ein kleines Gespräch mit ihr zu haben. Dieser „Zulauf” wurde von den anderen mit bissigen Kommentaren belegt, „da diese Typen sich früher bei uns das ganze Jahr über nicht blicken ließen”, wie es eine einmal sarkastisch formulierte.

Sandra wurde die Einarbeitung sehr erschwert, weil die drei es auf subtile Weise schafften, ihr betriebliche Informationen vorzuenthalten oder sie sogar falsch informierten. Da sie sehr geschickt dabei vorgingen und natürlich wie Pech und Schwefel zusammenhielten, konnte Sandra ihnen nie etwas nachweisen. Beschwerden die sie startete, verkehrten sich ins Gegenteil und beschädigten Sandras Ansehen bei den Chefs.

Schwindel als vegetative Überforderung

Den ganzen Tag war sie in höchster Anspannung und auf der Hut, neue Gemeinheiten rechtzeitig zu entdecken – um ihnen entgegnen zu können. Die erhöhte Vigilanz die sie dabei an den Tag legte, versetzte ihr vegetatives Nervensystem beständig in einen Alarmzustand. Der „vegetative Sturm” – der sich in ihrem Körper austobte – bescherte ihr einen Zustand der erhöhten Reizbarkeit und „legte” sich auch auf das Gleichgewichtsorgan, das sich im Innenohr befindet. Mit Fug und Recht kann behauptet werden, dass das Betriebsklima Sandras seelisches Gleichgewicht aus der Balance brachte.

Das Gleichgewichtsorgan hat bei Mensch und Tier die Aufgabe – durch Aktivierung muskulärer Systeme – den Körper gegen die Einwirkung der Schwerkraft im Gleichgewicht zu halten, sodass er nicht umkippen kann. Das Gleichgewichtsorgan vermittelt außerdem den Unterschied zwischen oben und unten. Ist es überfordert, weil chronischer Dauerstress das Individuum bombardiert oder weil eine zwanghafte Lebenseinstellung hin- und herrasende Gedanken erzeugt – treten Schwindelanfälle auf.

Dieses drastische Symptom hat – zusätzlich zur bereits bestehenden Überforderung – einen stark verunsichernden Effekt auf jeden Betroffenen. So ist die teilweise oder vollständige Loslösung eines Symptoms von der ursprünglich auslösenden Ausgangssituation zu verstehen: Es entwickelt sich ein geschlossenes System, in dem Ursache und Wirkung vertauschbar sind. Dies erklärt den Umstand, warum Sandra immer wieder Schwindelanfälle bekommt, auch wenn sie gerade nicht mit der belasteten Situation am Arbeitsplatz konfrontiert ist, wie z.B. an den Wochenenden oder auch im Urlaub.

Chronischer Schwindel produziert Cortisol

Die Angst vor den Schwindelattacken ist ihr ständiger Begleiter geworden und stellt eine Überforderung seelischer und körperlicher Kapazitäten dar. Es resultiert ein chronischer Dauerstress, der zu einer vermehrten Freisetzung von Stresshormonen aus der Nebenniere führt.

Besonders das Hormon Cortisol aus der Nebennierenrinde, das ein Verwandter des Medikaments Kortison ist, hat einen schädigenden Effekt auf das Gehirn; genauer auf die Region des Hippocampus im Zwischen- hirn. Cortisol führt dort zu einer Verödung von Nervenverbindungen – wie sie auch bei Depressionen vorkommen. Neurologen wissen um diese Zusammenhänge und verordnen bei chronischem Schwindel Antidepressiva – oft mit durchschlagender Wirkung. Schwindel hat im Patientenaufkommen einer neurologischen Praxis einen hohen Stellenwert. Etwa jeder dritte Patient so einer Facharztpraxis leidet an Schwindel-Attacken.

Es ist klar, dass die medikamentöse Behandlung so eines Krankheitsgeschehnisses nur der erste Schritt sein kann – auch wenn er ein wichtiger ist. Im Fall unserer Sandra müssten Beratungsstrategien entwik- kelt werden, mit denen es ihr möglich sein sollte, den Umgang mit den zickigen Kolleginnen zu verbessern