Depression  – die psychologische Online-Beratung

Evolutionäre Erklärung der Depression

Die gewonnenen Ergebnisse an tierischen Modellen beweisen eindrücklich, dass es so etwas wie eine Depression auch bei Tieren gibt und dass eine „tierische Depression” mit derselben Medikation behandelt werden kann wie eine menschliche. Ferner liegt die Vermutung nahe, dass die große Anzahl der Cortisolrezeptoren in der Hippocampus-Formation kein Zufall ist – kein Zufall sein kann –, weil solche Zufälle durch das Wirken der Evolution nicht erklärbar sind. Also muss man annehmen, dass die drastischen Effekte auf das Gehirn von der Evolution „gewollt” waren, dass sie sich durch das Wirken der natürlichen Selektion über Hunderte von Jahrmillionen herausgebildet haben und dass sie einen Sinn haben. Um sich Gedanken über einen möglichen Sinn der Depression zu machen, ist es hilfreich, in den drei Fallbeispielen, nach Gemeinsamkeiten zu suchen.

Was verbindet eine unterlegen Grille, eine verwitwete Graugans und einen geschassten Manager miteinander?

Nun, alle drei haben etwas verloren und sind dadurch zutiefst verunsichert:

Das siegessichere Grillenmännchen hat durch den Auftritt der unbesiegbare Kunstgrille seine Siegesgewissheit eingebüsst: Der „Grillerich” wurde demoralisiert und sein Selbstbewusstsein eklatant beschädigt.

Die Graugans hat den traumatischen Verlust ihres Partners zu verkraften; sie ist zutiefst beunruhigt und verunsichert. In der Gänsegemeinschaft verliert sie dadurch Rang und Status.

Und Peter – unser Ingenieur – hat durch die verpasste Aufstiegschance den Traum begraben müssen, eine Etage höher in die Managerhierarchie aufzusteigen. Er hat verloren und dadurch einen ganz eklatanten Statusverlust erlitten.

Fazit: Depressionen gehen immer mit einem Verlust von Selbstwertgefühl einher!

 

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Gesellig lebende Primaten, zu denen auch der Mensch – der Homo sapiens – gehört, leben in hierarchisch strukturierten Gruppen. Ein Alphaboss steht an der Spitze, gefolgt von niederrangigen Individuen, die sich in aufgefächerten Hierarchieebenen bewegen. Diese Rangordnung ist bei den Primaten relativ stabil, aber keineswegs statisch. Mit der Zeit können selbstbewusste Niederrangige aufsteigen und dann kommt es zu Verdrängungen und Veränderungen an der Spitze.

 

 

Junger Inder

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Ein ausgesprochen statisches Hierarchiesystem – das es bei Tieren so nicht gibt – ist das Kastensystem, das sich in Indien etabliert hat. Durch ein Zwangsreglement ist von oben fest- gelegt, dass es sozialen Aufstieg aus der tiefsten aller Kasten nicht geben kann. Diese Unberührbaren – Parias genannt – werden unten geboren und bleiben unten – ein Leben lang.

Alle Niederrangigen stehen in ihren Gruppen verstärkt unter sozialem Stress, weil sie Druck, Missbilligung und Willkür durch die Höherrangigen erfahren. Dieser Druck kann bei uns Menschen offen zutage treten oder versteckt und subtil sein; oder auch nur in der Vorstellung der Niederrangigen existieren.

Egal – wie auch immer –, das vegetative Nervensystem reagiert darauf und die Nebennieren schütten vermehrt die Stresshormone Cortisol und Corticosteron aus. Es ist die Crux derjenigen, die auf der sozialen Rangleiter unten stehen, dass diese Stresshormone bei ihnen ständig etwas erhöht sind.

Im Hippocampus führt das „Bombardement” der Stresshormone allmählich zu Veränderungen an den Nervenzellen. Allerdings sind diese Schäden den Umständen entsprechend: Niedrige Pegel an Stresshormonen bewirken weniger drastischere Veränderungen als starke.

Menschen mit geringen Nervenzellveränderungen im Hippocampus, befinden sich – mehr oder weniger – dauernd im Zustand einer Dysphorie. Oder in anderen Worten: Sie stehen ständig am Rande einer Depression. Spitzt sich die ungünstige Lebenssituation weiter zu oder treten anderweitig Faktoren auf, die die äußere oder innere Situation destabilisieren, wird eine depressive Verstimmung manifest.

In prähistorischen Jäger- und Sammlerkulturen waren die auf der untersten Hierarchiesprosse stehenden Gruppenmitglieder sicherlich besseren sozialen Bedingungen ausgesetzt, als es viele Menschen der Neuzeit sind.

Menschen so genannter primitiver Kulturen, auch die Rangniederen, fühlen sich innerhalb ihres Stammes sicher und geborgen und fallen nicht einer Vereinsamung anheim, wie sie oft typisch ist für niederrangige Individuen in den modernen anonymen Großgesellschaften.

Betroffene, mit von Stress „verwüsteten” Hippocampus-Bereichen, können stark in ihrer kognitiven Leistungsfähigkeit beeinträchtigt sein – auch was Vigilanz und Gedächtnis anbelangt. Sie sind deshalb einem erhöhten Unfallrisiko ausgesetzt.

Oft wird mit untauglichen Mitteln versucht, einer ständig vorhandenen Dysphorie und Antriebsschwäche Herr zu werden: Alkoholsucht, Drogenmissbrauch, Nikotinabusus, sexuelle Ausschweifungen usw. sind nur einige davon. Je nach Charakterdisposition zählt auch aggressives Verhalten dazu, denn Aggressionen sind geeignet, wenn auch nur temporär, Gefühle der Schwäche und Minderwertigkeit zu überdecken.

Über den Nutzwert der Depression

Wenn eine Grille einige Zweikämpfe hintereinander gegen andere Grillen verliert, ist es wahrscheinlich, dass das auch zukünftig wieder passieren wird. Als Gründe könnte man eine körperliche Schwäche des Tierchens vermuten oder ein höheres Lebensalter. Wie dem auch sei, für die nicht ganz so fitten wird es sicherlich besser sein – um Kräfte zu sparen und um ihrer Gesundheit willen – zukünftig etwas kürzer zu treten.
Grillen kämpfen dann – wenn überhaupt – nicht mehr ganz so verbissen und wenn sie nicht sofort gewinnen können, stecken sie auf und suchen das Weite.

Für Lebewesen zahlt es sich nämlich nicht aus, ständig, bei allen Gelegenheiten, bis an die Grenzen zu gehen und darüber hinaus; besonders dann nicht, wenn ihnen ihre Erfahrung sagt, dass wahrscheinlich eh nichts zu holen sein wird. Diese demoralisierte Haltung vermindert zwar einerseits die Siegeschancen, andererseits aber spart sie Energien ein und minimiert das Gesundheitsrisiko.

Die Evolution hat über die Jahrhunderttausende herausgefunden, dass für männliche Grillen auf der Verliererstraße diese Verhaltensvariante die günstigere ist und sie deshalb im Erbgut der Tierchen etabliert.

Graugänse halten als Paar fest zusammen und stehen einander bei allen Gefahren treu zur Seite. Ob es darum geht, sich gegen fremde, zänkische Gänse zu behaupten oder darum einen Fuchs zu vertreiben, den es nach einen Gänsebraten gelüstet – immer hilft einer dem anderen. Ist der Partner nicht mehr am Leben, ändert sich das Gänseleben radikal. Feinde werden zu einer stärkeren Bedrohung und aggressiven Artgenossen ist man alleine nicht mehr gewachsen. Sich so selbstbewusst wie früher zu gebärden, als es den Partner noch gab, wäre töricht und gefährlich. Der Anstieg der Stresshormone im Blut, der mit so einer bedauernswerten Situation immer einhergeht, verändert das Gehirn und führt so zu einer Modifikation des Verhaltens.

Die vermehrte Ängstlichkeit von „depressiven” Gänsen ist eine sinnvolle Anpassung an eine verstärkte Gefahrenlage, die jetzt von ihrer Umwelt ausgeht. Passivität und Antriebsschwäche sind ebenso adaptiv, halten sie doch die Tiere davon ab, sich Risiken auszusetzen – Risiken, denen sie als Alleinstehende nun verstärkter ausgesetzt sind.

Das Gehirn schaltet in solchen Situationen einen Gang tiefer und stellt sich auf einen Arbeitsmodus ein, der aktivitätsärmer ist – um die ungünstige Lebenssituation heil zu überstehen. Vermenschlicht könnte man sagen, die Graugans versucht ihre missliche Situation auszusitzen – um auf bessere Zeiten zu warten und auf einen neuen Partner.

Was ich über die Funktionalität der tierischen Depression gesagt habe, gilt unisono für den Menschen. In einer primitiven Gesellschaft – in prähistorischer Zeit – verhalf ein depressiver Gemütszustand unseren Vorvorfahren dazu, einen Statusverlust seelisch und körperlich zu überwinden. Menschen brauchten diese Trauerphasen um von einem Verstorbenen Abschied zu nehmen oder um einen Positionsverlust innerhalb ihrer Gruppe zu verarbeiten.

Ihr „abgeschaltetes” Gehirn verhinderte es, dass sie sich Ziele setzten, denen sie gegenwärtig nicht gewachsen waren. Das betont unterwürfige und ängstliche Verhalten, das in der Regel mit einer Depression einhergeht, wirkte auf Höherrangige als Demutsgeste und setzte aggressive Impulse bei ihnen unter Hemmung.

Der Nutzeffekt solch melancholischer Stimmungslagen bestand demnach in der Vermeidung zwischenmenschlicher Konkurrenz-Situationen; Streitigkeiten und Rivalitäten ging man aus dem Wege, wenn eine reduzierte seelisch-körperliche Verfassung einem wenig Aussichten auf Erfolg einräumte. So verhinderten depressive Zustände potentiell fatale Folgen; Folgen, die sich sonst sehr leicht für diese „Verlierer” ergeben konnten.

Die sich einstellende Depression verhalf dem Frühmenschen Zeit zu überbrücken; Zeit – bis es sich fügte –, dass auch für ihn die Sonne wieder scheinen konnte.

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Bei Peter, unserem verhinderten Chefmanager, waren diese Mechanismen am Werk. In prähistorischer Zeit hätte ihm sein depressiver Zustand geholfen, seinen Statusverlust zu verarbeiten. Im 21. Jahrhundert ist dazu aber keine Zeit, weil „weitergekämpft” werden muss.

So verkehrt sich der ursprünglich positive Effekt ins Gegenteil. Heutzutage führt eine Depression dazu, dass sich ein erlittener Statusverlust noch vergrößert, weil der moderne Mensch aus beruflichen oder familiären Gründen zum „Funktio- nieren” gezwungen ist.

Wir können es uns einfach nicht leisten, dass durch Kummer, Leid oder Misserfolg unser Gehirn einen „Abschaltvorgang” initiiert und eine Auszeit nimmt. Tut es dies trotzdem, wird das als Krankheit einge- stuft, die behandelt werden muss.

Wirkungsweise von Antidepressiva

In den allermeisten Fällen sind Antidepressiva hilfreich, depressive Zustände zu überwinden. Da aber – je nach Schwere einer Depression – Veränderungen der Hippocampus-Neurone vorliegen, dauert es in der Regel zwei oder drei Wochen, bis eine medikamentöse Therapie anschlägt.

Wie Neurobiologen zeigen konnten, kommt es unter dem Einfluss der Stresshormone Cortisol und Corticosteron zu diesen Veränderungen – die wiederum zu Änderungen des Verhaltens und der Gemütslage führen. Hippocampus-Neurone erleiden durch Stresshormone eine Atrophie (Schwund) ihrer Nervenfortsätze – der Dendriten (siehe Abbildung Text 1). Diese Dendriten gleichen winzigen Kabel- verbindungen, mit denen die Nervenzellen untereinander verbunden sind. Sterben die Verbindungsstücke ab, wird der Strom-Durchfluss in den Neuronen-Verbänden geringer, was tief greifende Effekte auf das gesamte Gehirn hat.

Es gibt heutzutage eine große Anzahl antidepressiv wirkender Medikamente, die auf unterschiedliche Art und Weise in den Hirnstoffwechsel eingreifen, und so das aus der Balance geratene Zusammenspiel einzelner Hirnareale wieder einpendeln. Auch Hypericum – Johanniskraut – gehört dazu und hilft bei leichteren Formen einer Depression.

Manche dieser Wirkmechanismen sind im Einzelnen noch immer unverstanden – bei anderen kennt man die pharmakologischen Effekte die sie hervorrufen. Viele Antidepressiva verstärken auf eine raffinierte Art und Weise die elektrische Aktivität in den durch Stress verkrüppelten Nervenzellen – durch Erhöhung der Botenstoffe Serotonin oder/und Noradrenalin im synaptischen Spalt.

Wie im Teil 1 ja erwähnt, bewirkt ein elektrischer Impuls den Ausstoß dieser Transmitter in den Kontaktspalt zwischen zwei Nervenverbindungen; dies bewirkt die Erregungsübertragung von Nerven- zelle A auf Nervenzelle B.

In diesem synaptischen Spalt sitzt nun aber das Enzym Monoaminooxydase, das darauf lauert, die eintreffenden Botenstoffe zu zerstören, um die Erregung wieder auf Null zu bringen.

Antidepressiva drehen Strom auf

Eine bedeutende Substanzklasse antidepressiv wirkender Medikamente sind die Mao-Hemmer. Sie stoppen die Zerstörungswut der Monoaminooxydase. Die Folge ist eine verlängerte Lebensdauer der Transmitter im Kontaktspalt und damit verbunden, eine Verlängerung der elektrischen Aktivität dieser Nervenfasern.

Eine andere Medikamentensparte, die Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer, erreicht Ähnliches, aber auf einem anderen Weg: Botenstoffe im synaptischen Kontaktspalt, die der Zerstörungswut der „Mao” entgehen, können recycelt werden – durch Rückholung aus dem synaptischen Spalt zur Wiederver- wendung. Auch dieser Rückholmechanismus stoppt die elektrischen Impulse zwischen den Nervenzellen. Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer lassen diese Recycelprozesse nicht zu und erhöhen dadurch, ebenso wie die Mao-Hemmer, die elektrische Aktivität in den Neuronenverbänden.

Zusammengefasst kann gesagt werden, dass Antidepressiva – vereinfacht ausgedrückt – den „Strom aufdrehen”, der durch die stressgeschädigten Nervenverbänden fließt. Die auf diese Weise „überfor- derten” Nervenzellen bemühen sich, neue Kabelverbindungen zu schaffen, um der Energie Herr zu werden, die sie durchströmt.

Die psychosozialen Stresssituationen, die bei den allermeisten Erkrankten ja noch weiter bestehen, können diese drastischen medikamentösen Effekte in aller Regel nicht außer Kraft setzen. Zudem werden untergegangene Nervenzellen, die durch die Stresshormone bisher am Nachwachsen gehindert wurden, nach und nach durch neue ersetzt – um der angekurbelten elektrischen Aktivität gerecht zu werden. Diese Effekte führen zu einer deutlichen Antriebssteigerung der Patienten und zu einer Aufhellung ihrer Gemütslage.

Bei weniger drastischen Depressionen hat sich herausgestellt, dass körperliche Bewegung oder regelmäßige sportliche Betätigung ausreichend sein kann – ganz ohne Medikamente – eine depressive Episode zu überwinden.

Schlafentzug, in der Sicherheit einer therapeutischen Einrichtung praktiziert, hat in manchen Fällen ebenso eine deutlich antriebssteigernde und stimmungsaufhellende Wirkung.

Antidepressiva wirken manchmal nicht

Diese nichtmedikamentösen Behandlungsformen, zu denen auch die Elektroschockbehandlung früherer Zeiten gehört, erlangen dann eine besondere Bedeutung, wenn Patienten nicht auf eine medikamentöse Behandlung ansprechen. Diese Fälle waren den Medizinern und Pharmakologen lange Zeit unbegreiflich. Erst in jüngerer Vergangenheit konnte das Rätsel gelöst werden: Die antidepressiven Medikamente gelangen bei diesen Personen nicht in das Gehirn.

Das Gehirn des Menschen ist das sensibelste und störanfälligste Organ, das es im Körper gibt. Die Evolution hat deshalb zu seinem Schutz eine Barriere entwickelt, die schädliche Stoffe abhalten soll: die Blut-Hirn-Schranke.
Infektionen des Gehirns mit Mikroorganismen z. B. sind eingeschränkt therapierbar, weil viele Antibiotika nicht in der Lage sind, diese Blut-Hirn-Schranke in ausreichender Konzentration zu überwinden. Antidepressiva, die bei manchen Menschen nicht wirken, scheitern ebenso an dieser Barriere. Man hat bei diesem Personenkreis Gene ausfindig gemacht, die für diese Undurchlässigkeit verantwortlich sind.

Teufelskreislauf Depression

Depressive sind sehr häufig in einem psychologischen Teufelskreislauf gefangen: Weil sie mit ihrem Leben schlecht zurande kommen, werden sie depressiv und dysphorisch. Sind sie es erst einmal, kommen sie mit ihrem Leben noch schlechter zurande. Dieser sich selbst verstärkende Kreislauf kann durch eine medikamentöse Therapie wirksam durchbrochen werden; was ein erster und wichtiger Schritt ist. Aber eine medikamentöse Therapie schützt Betroffene nicht vor Rückfällen – die umso wahrscheinlicher werden, je häufiger früher schon depressive Episoden in Erscheinung getreten sind. Mit der Zeit genügen immer geringere Auslöser, um in diese Zustände zu geraten.

Es ist daher sehr zu empfehlen, im Anschluss an eine erfolgreiche medikamentöse Behandlung oder währenddessen, eine Psychotherapie ins Auge zu fassen. Nur wenn Betroffene es auf Dauer schaffen, ihr seelisches „Rüstzeug” zu verbessern, werden sie künftig vor depressiven Episoden mit einiger Wahrscheinlichkeit verschont bleiben.

Schlussgedanken

Wie ausführlich dargelegt, existieren depressive Erscheinungen beim Menschen weltweit und sogar bei Tieren wurden vergleichbare Zustände festgestellt. Das Auftreten einer Depression ist immer mit einem niedrigen oder mit einem verloren gegangenen Selbstwertgefühl verbunden. Das „Abschalten” des Gehirns soll den Unternehmungsgeist eines vermindert belastbaren Individuums bremsen, um Lebensrisiken zu minimieren.

In prähistorischen steinzeitlichen Stammesgesellschaften konnten sich Depressive auf ein soziales Netz verlassen, das sie auffing und das Sicherheit und Geborgenheit vermittelte. Unterwürfig-ängstliches Verhalten war hilfreich, um aggressive Handlungen Höherrangiger zu unterbinden. In ihrem Nischen- dasein konnten sich unsere depressiven Vorfahren seelisch regenerieren – um irgendwann wieder, in aller Frische, auf der Spielwiese sozialen Lebens mitzumischen.

Diese Schonräume existieren für die Erkrankten moderner Zeiten aber eher nicht, weil unser soziales Netz zwar materielle Nöte auffängt, aber es häufig an Geborgenheit und Akzeptanz mangelt – die in den prähistorischen Lebensgemeinschaften eine Selbstverständlichkeit waren.

Zwang funktionieren zu müssen

Depressive wissen heutzutage oft nicht, wie sie mit ihrem Leiden umgehen sollen, und auch ihre Angehörigen wissen es nicht. Leichtere Formen depressiver Verstimmung würden ohne Behandlung von selber abklingen, wenn der Kranke und seine Angehörigen den Zustand einfach so hinnehmen könnten wie er ist.
In der heutigen Gesellschaft ist es aber nicht okay, wenn einer einmal eine zeitlang „schlechter drauf” ist. „Reiß dich halt ein bisschen zusammen”, sind die guten Ratschläge, die Schwermütige zu hören bekommen; oft genug sprechen sie so zu sich selbst, um die bleierne Antriebslosigkeit zu überwinden.

Durch den Druck, den sie dabei auf sich selber ausüben, versuchen sie – über eine Willensanstrengung – der Sache Herr zu werden. Auf sich „Druck” auszuüben bedeutet aber, das Gehirn in einen Zustand erhöhter Betriebsamkeit zu versetzen. Wegen der maximalen Mobilisierung neuraler Kapazitäten kann so ein Zustand – von Haus auf – nur über einen bestimmten Zeitraum aufrecht erhalten werden; auch weil durch einen Druck keine echte Motivationslage geschaffen werden kann – die quasi von innen heraus als Antreiber wirksam werden könnte. Die Folgen solch untauglicher Lösungsversuche sind immer eine weitere Verschlechterung des depressiven Zustandes, weil die primär vorhandene seelische Überlas- tungssituation noch weiter verschärft wird.

Risiko Schulversagen

Bei uns in der westlichen Welt sind Depressionen zu einer Art Volkskrankheit geworden. Das ist im Grunde nicht verwunderlich, da unser Gesellschaftssystem sehr stark auf die Leistungsbereitschaft und das Pflichtbewusstsein des Einzelnen baut. Der moderne Mensch des 21. Jahrhunderts kann sehr leicht überfordert werden oder sich selbst überfordern. Das Erwachsenwerden z. B. geht bei uns mit Schuldruck und aufreibenden Prüfungssituationen einher, die sehr oft von Versagensängsten und Unsicherheiten begleitet werden, da ein Scheitern auf dieser Ebene die Aussicht verringert, es im späteren Leben zu etwas bringen zu können.

Erleben junge Menschen Misserfolge oder können sie die Erwartungen nicht erfüllen, die die Eltern an sie stellen, ist das von Haus auf prekäre Selbstbewusstsein der Adoleszenten in Gefahr. Die Identi- tätsfindung junger Menschen, auf der Schwelle zum Erwachsenwerden, kann dadurch erheblich erschwert und behindert werden – und die Disposition erhöhen, an einer Depression zu erkranken.

Jugendliche so genannter primitiver Naturvölker haben es da sehr viel einfacher, da ihr Weg in die Er- wachsenenwelt vorgezeichnet ist und nicht durch Wettbewerb und Unsicherheiten geprägt ist. Ihre Prüfungen zum „Mann sein” sind zwar mit schmerzhaften Initiationsriten verbunden oder mit widrigen Situationen, die sie eine zeitlang ertragen müssen. Haben sie das aber alles überstanden, haben sie den erforderlichen Reifegrad erreicht, den ihr Stamm von ihnen erwartet und sie rücken automatisch in die nächste Hierarchieebene auf. Selbstzweifel, Wettbewerbssituationen mit Anderen nicht bestehen zu können, existieren hier praktisch nicht – eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung eines gesunden Selbstwertgefühls.

Neurotische Depression

Die Möglichkeiten die – zumindest theoretisch – jeder bei uns hat, einen sozialen Aufstieg zu schaffen, erwecken Begehrlichkeiten nach Reichtum und Macht – auch bei den weniger Privilegierten. Menschen stecken sich aus Ehrgeiz und Geltungsbedürfnis sehr oft Ziele, die, bei Licht betrachtet, wenig Aussichten auf Erfolg haben. Zerplatze Träume und gescheiterte Lebensentwürfe führen zur Desillusionierung und zu einem Verlust von Ichstärke und Selbstwertgefühl. Eine „neurotische Depression” kann dann die Folge sein, da die Enttäuschung über das eigene Versagen sehr oft zu Niedergeschlagenheit und Selbstzweifel führt.