Hypochondrie ist eine „eingebildete“ Krankheit

Mit weit geöffneten Augen – weit geöffnet vor Angst, Angst vor dem was kommt, Angst vor dem Tod – so stellt der Künstler Honoré Daumier seinen eingebildeten Kranken dar. Das Kunstwerk bebildert das Seelenleben eines Depressiven – erkennbar an der Schlaffheit des Gesichtes – der anscheinend im Begriff ist, an einer Krankheit zu sterben, die nur in seiner Einbildung existiert.

Der Hypochonder – so seine medizinische Bezeichnung – ist wohl von allen Patienten der am meisten unverstandene. Eingebildete Kranke hat es schon immer gegeben und immer schon haben sie Ärzte und Angehörige mit ihren Symptomen zur Verzweiflung gebracht.

Der eingebildete Kranke

Der eingebildete Kranke /Bild:Wikipedia

Liebe Besucherinnen, liebe Besucher,

Informationsseiten zum Thema Psychosomatik wären natürlich unvollständig, ohne eine ausführliche Beschreibung dieses Patiententyps, der das Kunststück fertig bringt, krank zu sein, obwohl er gesund ist!

Der Ausdruck Hypochondrie ist uralt. Übersetzt heißt das Wort: unter dem Knorpel. Antike Ärzte meinten damit einen vermeintlichen Krankheitsprozess, der seinen Sitz unter den knorpeligen Rippenbögen hatte, also im Bauchraum. Diese Vorstellung rührte von der Tatsache her, dass depressive Hypochonder häufig unter unerklärlich-schmerzhaften Leibempfindungen litten, die sie in Todesangst versetzten.

Wechselspiel von Gefühl und Vernunft

Wenn man hypochondrische Zeitgenossen näher kennt, kommt man zu der Auffassung, dass Ängstlichkeit und Krankheitsfurcht die Basis ihrer Leiden sind. Obwohl dies natürlich zutrifft, ist es nur die eine Seite der Münze. Die andere Seite ist ihr zwanghaft entwickeltes Kausalitätsbedürfnis, das die Frage nach dem Warum stellt.
Unerklärliche Körperstörungen oder beängstigende Krankheitssymptome veranlassen den Verstand nach deren Ursache zu suchen – um anschließend das Übel aus der Welt schaffen zu können.

Findet der Denkapparat keine plausible Erklärung für die Existenz der hypochondrischen Symptome und versagen die diagnostischen Möglichkeiten der Ärzte, befällt Angst den Leidenden. Diese Angst – sie hat ihren Ausgang im limbischen System des Gehirns –, zwingt nun die grauen Zellen im Neokortex erneut, sich Gedanken über die beängstigende Situation zu machen…
Endlose Grübeleien und Zwangsgedanken können sich einstellen und das Wechselspiel zwischen limbischen System und Neokortex immer weiter treiben. Der Effekt ist ein ständiges Aufschaukeln von Angst und Unsicherheit. Diese zwingen Leidende sich immer weiter mit ihren Körperstörungen zu beschäftigen und zur Konsultation neuer Ärzte und Spezialisten…

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Siechtum und Tod… ©Elena Schweitzer/ fotolia.com

Die Gedankenwelt des Mittelalters war geprägt von religiöser Fixierung und Hexenwahn. Irrationales Fühlen und Erleben konnten auf diesem Boden üppig ins Kraut schießen. Unerklärliche und beängstigende Körperstörungen verdichteten sich daher leicht in der Vorstellung Leidender zu wahnhaften Ideengebilden über Siechtum und Tod.

Die hervorstechendsten körperlichen Symptome dieser geschichtlichen Hypochonder waren nervöse Störungen im Epigastrium, die man heutzutage als funktionelle Oberbauchsyndrome bezeichnen würde oder vulgo als Bauchweh.

Die große seelische Belastung – erwachsen aus der Gewissheit – an einer schweren und unheilbaren Krankheit zu leiden, kann zu einer Überforderung des Nervensystems führen und zu einer Erschöpfung vegetativer Kapazitäten. Die Folge ist manchmal eine maligne Depression, die eventuell in einen Suizid mündet, um das drohende Ende vorwegzunehmen oder die, in einer Art selbst erfüllender Prophezeiung, zu einer schweren körperlichen Erkrankung führt – ebenso mit der Möglichkeit eines letalen Ausgangs.

Der Voodoo-Zauber den heute noch manche Stammesgesellschaften praktizieren, funktioniert im Prinzip ähnlich. Als Bestrafung für eine schwere Verfehlung spricht der Schamane des Stammes ein Todesurteil über einen Delinquenten. Die zeitgleich erfolgte Ausstoßung aus seiner sozialen Gruppe und die Gewissheit des sicheren Todes, überfordern Seele und Geist des Bestraften. Die überwältigende Stresssituation – als Reaktion auf den nahenden Tod – lässt nach einiger Zeit tatsächlich die Organfunk- tionen des Bedauernswerten zusammenbrechen.

Moderne Formen der Hypochondrie

Schwere hypochondrische Depressionen, wie sie im Mittelalter offensichtlich gang und gäbe waren, kommen heutzutage, zumindest in der westlichen Welt, seltener vor – aber die einfachen Hypochonder sind so zahlreich wie eh und je.

Man schätzt, dass etwa 50% aller Patienten die einen Allgemeinarzt aufsuchen, mit Beschwerden behaftet sind, für die kein krankmachendes Substrat gefunden werden kann; d.h. bei ihnen liegt keine organische Erkrankung vor. Sind diese Leidenden nun allesamt Hypochonder oder Simulanten? Mitnich- ten!
Viele dieser Hilfesuchenden leiden an psychosomatischen Schmerzzuständen oder an funktionellen vegetativen Störungen. Sehr häufig verbirgt sich hinter ihren Beschwerden auch eine versteckte Depression, die – wenn nicht entdeckt und behandelt – die Symptome immer weiter fortbestehen lässt.

Hypochondrische Naturen hat man immer dann vor sich, wenn ausgeprägte Krankheitsängste auch dann nicht verschwinden, wenn zahlreiche und ausgedehnte Untersuchungen keine krankhaften Befunde erbringen.

 

Oft sind die Beschwerden funktioneller Natur und nicht so gravierend, aber die Tatsache, dass da etwas ist, das eigentlich nicht da sein dürfte, kann starke Furcht in den Betroffenen auslösen und sie zwingen – immer aufs Neue – kostspielige Untersuchungen zu veranlassen. Der Volkswirtschaft entstehen durch diese Praktiken immense Schäden – helfen aber tun sie den modernen Hypochondern nicht wirklich. Im Gegenteil: Die vielen Untersuchungen und Konsultationen verstärken unbewusst noch die Vorstellung, wirklich krank zu sein oder an einer schweren körperlichen Störung zu leiden, auf die die moderne Medizin keine Antwort hat. Unbedachte oder missverständliche Äußerungen eines genervten Arztes können die Krankheitsbereitschaft dieser sensiblen Individuen sehr stark fördern (iatrogene Krankheiten).

Neuraler Filtermechanismus

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©ra2 studio/fotolia.com

Im Wachzustand nimmt das Sensorium von Mensch und Tier – in jeder Sekunde – unzähliche Informationseinheiten auf, die zur Verarbeitung an das Gehirn weitergeleitet werden. Dort erfolgt ein Sortieren nach einer Prioritätsliste und dann entscheidet es sich, ob eine entspre- chende Information ins Bewusstsein rückt oder nicht.

Als Reaktion kann dann eine Handlung stattfinden, eine emotionale Resonanz erfolgen oder ein Gedankenprozess in Gang kommen oder z. B. auch ein physischer Schmerz verspürt werden. Ist die Eingangs- energie zu gering oder trifft das Gehirn die Entscheidung, dass der Reiz irrelevant für das Individuum ist, bleibt er in einem neuronalen Filternetz hängen und erreicht nicht das Bewusstsein, d.h. wir merken und verspüren nichts von ihm.

Dieser Filter ist etwas sehr segensreiches, bewahrt er doch unser Gehirn davor, unwichtigen Datenmüll bearbeiten zu müssen. Sein Funktionsmodus ist aber nicht fest einprogrammiert, sondern dynamisch verstellbar – je nach Befindlichkeit und Bedarf. Stellen Sie sich bitte einmal einen Soldaten vor, der nachts, hinter den feindlichen Linien, einen Erkundungsauftrag zu erfüllen hat: Er wird mehr hören, sehen und fühlen, als zu jedem anderen Zeitpunkt seiner Existenz.

Die hoch aufgedrehte Vigilanz, die sein lebensgefährlicher Auftrag bedingt, schaltet seinen Reiz-Per- zeptions-Filter aus und lässt Informationen ins Bewusstsein dringen, die anderweitig unterschwellig bleiben würden. Das allerfeinste Rascheln, zwanzig Meter von ihm entfernt, erzeugt von den winzigen Beinchen einer Maus, erregt nun seine Aufmerksamkeit und lässt ihn lauschen und innehalten.

Experiment zur Körperwahrnehmung

Man kann mit jedem x-beliebigen Menschen ein kleines Experiment machen, das aufzeigt, dass wir tatsächlich über so einen Filter im Zentralnervensystem verfügen und dass man diesen Filter durch eine Konzentrationsübung außer Kraft setzen kann:

Stellen Sie sich vor, Sie sitzen auf einem Stuhl und werden aufgefordert, sich auf Ihr Gesäß zu konzentrieren. Genauer gesagt auf die Hautregion Ihrer Gesäßpartie, die durch ihre Unterwäsche und ihre Hose Kontakt mit der Polsterung des Stuhles hat. Wenn Sie sich einige Zeit intensiv auf diese Stelle konzentrieren, werden Sie sehr wahrscheinlich mit unangenehmen Empfindungen konfrontiert: Plötzlich stellen Sie vielleicht fest, dass Ihre Unterwäsche nicht sonderlich gut sitzt; dass sie eigentlich verrutscht ist und dass einer der Gummiränder sich an einer unaussprechlichen Stelle befindet und Sie zwickt. Außerdem kann es Ihnen so vorkommen, als ob Sie viel zu weit vorne sitzen würden und der Stuhlrand Ihnen deshalb einen unangenehmen Druck im Oberschenkelbereich beschert usw.

Wahrscheinlich stellen sich schon beim Lesen dieser Zeilen negative Empfindungen bei Ihnen ein!

Je länger Sie sich nun auf diese Sensationen konzentrieren, umso unangenehmer wird Ihnen ihre Lage erscheinen und umso dringlicher werden Sie das Bedürfnis verspüren, Ihre Sitzposition zu korrigieren.

Wenn man durch andere Tätigkeiten abgelenkt wird und sich nicht darauf konzentriert, entgeht einem diese Unbequemlichkeit völlig, weil unser Gehirn die eingehenden Reize von der Wahrnehmung aus- schließt – da sie viel zu unbedeutend sind.

So kann ein trainierter Ausdauerläufer, der es gewöhnt ist, lange mit festem Schuhwerk zu laufen, einen Ermüdungsbruch des Fußes erleiden und trotzdem bis zum Ende durchhalten – weil er die auftretenden Schmerzen als eine lässliche Bagatelle empfindet. Ein Anderer könnte es mit derselben Malaise gerade noch schaffen, humpelnd zwanzig Meter zurückzulegen.

Hypersensitivität und Hypochondrie

Die Hypochondrie ist nicht als einheitliche Form einer psychogenen Störung aufzufassen. Was man als Hypothese aber formulieren könnte, wäre die Vermutung, dass Hypochonder über einen ungenügend ausgebildeten neuronalen Filtermechanismus verfügen. Einen Mechanismus, der sie nur mangelhaft von den Signalen abschirmt, die ihr eigener Körper aussendet.
Reizschwellenerniedrigung und Wahrnehmung unbewusster Körpersignale können als Markenzeichen besonders sensibler Menschen gelten; sie können angeboren sein und auf einer spezifischen Veranla- gung zur Hypersensitivität beruhen – wie sie oft hochsensiblen Künstlern zu eigen ist oder besonders kreativen und feinfühligen Individuen.

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Sensible haben’s schwer ©Andrzej Wilusz/ fotolia.com

Meist kommt man aber nicht als Sensibelchen zur Welt, sondern wird dazu gemacht. Elterliche Weltanschauung und Erziehungsstile prägen nicht nur die Persönlichkeit eines Kindes bzw. eines späteren Erwachsenen, sondern sie können auch Empfindsamkeiten festlegen, die langfristig zur Absenkung neuro- naler Reizschwellen führen und daher körperliche Sensationen zur Perzeption kommen lassen, die bei anderen Individuen unterschwellig bleiben.

Wenn Eltern sehr, sehr fürsorglich sind, und großen Wert darauf legen, dass ihre Sprösslinge auf körperliche Signale besonders achten, um frühzeitig beginnende Erkrankungen zu erkennen oder um einer ungesunden Lebensweise vorzubeu- gen, können sie das Nervensystem ihrer Kinder für Vorgänge sensibilisieren, die sich innerhalb der Körpersphäre abspielen.

So eine von Vorsicht und Umsicht geprägte Erziehung vermittelt sehr leicht die Vorstellung, dass Gesundheit nicht etwas Natürliches ist, das man umsonst bekommt, sondern dass Gesundheit etwas ist, um das man sich zeitlebens bemühen muss – etwas, das erarbeitet werden muss. Internalisieren Kinder diese Vorstellungen, sind sie als Erwachsene anfällig für neurotische Lebensweisen – weil sie bei allen Gelegenheiten Gefahren für Leib und Leben wittern, auf die sie unbedingt reagieren müssen…

Geraten solche Individuen einmal in seelische Belastungssituationen und entwickeln irgendein belangloses psychosomatisches Symptom, das nicht gleich wieder verschwindet, machen sich Ängste breit, die eine hypochondrische Karriere wahrscheinlich machen. Diese Kranken verfallen dann in eine verstärkte Selbstbeobachtung, weil sie sehnsüchtig darauf warten, dass die beängstigenden Körper- symptome wieder verschwinden. Bei Fortdauer des bedrohlichen Zustandes verstärkt sich der aktivierte Vigilanzmechanismus weiter und führt zu einer noch stärkeren Absenkung der Reizschwelle für körperliche Empfindungen.

Die Folge: Normalerweise unterschwellig bleibende Stoffwechselvorgänge und andere Körpersignale können wahrgenommen werden und erreichen die Bewusstseinsebene, wo sie sie für unangenehme Gefühle sorgen. Klassische Hypochonder – wie oben schon erwähnt – stecken in einem Teufelskreislauf fest: Weil sie etwas verspüren, werden sie unruhig und ängstlich. Dies zwingt sie zu einer verschärften Selbstbeobachtung – um ja Nichts zu übersehen. Unglücklicherweise verspüren sie aber jetzt erst recht unangenehme Empfindungen an allen Ecken und Enden ihres Körpers – die sie natürlich sehr, sehr aufre- gen und ängstigen…