Körper und Stress – die Online-Sprechstunde

Stress schaltet Notfallprogramme ein

Lässt man einen Fußballspieler am Ende eines Matches in ein Röhrchen pinkeln und untersucht den Urin, wird man Erstaunliches feststellen: Nicht was Dopingsubstanzen anbelangt – sondern was den Energieträger Glucose betrifft – allgemein bekannt auch als Traubenzucker. Mengen wie waschechte Diabetiker weisen die abgekämpften Jungs dann auf und noch erstaunlicher – auch die Ersatzspieler – die keinen Meter weit gelaufen sind; und die Zuschauer auf den Rängen ebenso – allesamt im Stadion sind sie situative Diabetiker.
Dem emotionalen Sog bei wichtigen Spielen kann sich keiner entziehen und so verschmelzen die Zuschauer zu einer homogen reagierenden Masse – innerlich wie äußerlich. Die Menge an Zucker, die die Fans dabei über den Harn verlieren, ist dem Fanatismus proportional mit dem sie ihre Idole unterstützen.

Notfallprogramme auch beim Sport

Sportgroßveranstaltungen sind deshalb so beliebt, weil es dabei um „Leben und Tod” geht – im übertra- genem Sinne. Die übersteigerte Wertigkeit die diese Massenveranstaltungen für ihre Anhänger haben, erklärt sich aus der starken Identifikation mit der sich die Sportfans emotional an die Vereine binden. Wir Menschen sind von unserer Biologie her Gruppentiere, denen es im Normalfall ein starkes Bedürfnis ist, sich in Kreisen Gleichgesinnter aufzuhalten. Gruppen fungieren als „geschlossene” Einheiten, mit der Tendenz zur Abgrenzung gegen andere.

Diese Abgrenzungsbestrebungen werden durch Gefühle der Rivalität und Aggression befeuert. In urzeit- lichen Situationen ergaben sich dadurch Konflikte, die Stammesfehden und kriegerische Auseinanderset- zungen nach sich zogen. Sportveranstaltungen mit zwei Mannschaften die sich gegenüberstehen – angefeuert von zwei Parteien – können als stark ritualisierte archaische Zwischengruppenkonflikte aufge- fasst werden. Die Sportveranstaltung fungiert dabei als Äquivalent einer kriegerischen Auseinanderset- zung.

Kriegerische Auseinandersetzungen – auch wenn sie nur imaginiert sind – lösen im Körper Notfallpro- gramme aus, die auf eine Kampf- oder Fluchtreaktion vorbereiten sollen.

Energie für Kampf und Flucht

Über die Sinneskanäle eingehende Reize lösen in bestimmten Situationen Alarm aus, der einen Sturm im vegetativen Nervensystem entfacht; blitzartig wird der Körper in jenem Aktivitätszustand versetzt, wie er auch bei Schwerarbeit vorkommt. Alle Systeme laufen dabei auf Hochtouren, um aus dem Stand heraus die volle Leistung bringen zu können; man denke dabei an einen Leichtathleten – Sekunden vor dem Startschuss.

Eine der physiologischen Leistungen dieses Notfallprogramms ist die Bereitstellung großer Mengen Blutzucker – als Treibstoff für die Muskeln. Die Blutglucosewerte können dabei solche Spitzen erreichen, dass die Nieren dem Zuckeranstrom nicht mehr Herr werden und diesen wertvollen Stoff in den Harn durchrutschen lassen. Erst wenn die aufgewühlten Emotionen bei Spielern, Ersatzleuten und Fans zur Ruhe kommen, normalisieren sich die Zuckerwerte im Blut; der Harn scheidet dann wieder ausschließlich das aus, was er soll – unbrauchbare und giftige Substanzen, die der Körper loswerden muss.

Stress ist Begriff aus der Physik

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Er kann nicht mehr… ©lichtmeister/ fotolia.com

In den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts fing man an, diese körperlichen Zusammenhänge zu erforschen und nach und nach zu be- greifen. Aus dieser Zeit stammt der heutzutage jedem Kind geläufige Begriff Stress. Diese Bezeichnung ist aus der Physik entlehnt und meint dort eine Kraft, die auf eine Struktur einwirkt und die ab einer bestimmten Intensität dieser Kraft anfängt sich zu verformen – entweder bleibend oder mit der Fähigkeit zur Rückbildung.

Bemerkenswert für alle lebenden Systeme ist ein relativ einheitliches Reaktionsmuster, mit dem der Körper auf die verschiedensten Stressoren reagiert. Verabreicht man Menschen z. B. Stromstöße oder setzt sie extre- mer Kälte oder Hitze aus, reagiert ihr Körper mit denselben Veränderungen wie bei starker Furcht. Diese Veränderungen im Körper sind Adaptationen – Anpassungen – mit dem Ziel, den Organismus in der verschärften Situation optimal funktionieren zu lassen.

Die Fähigkeit zu diesen Anpassungen ist als phylogenetisches Erbe in unseren Genen gespeichert – sie ist von unseren tierischen Vorläufern übernommen und deshalb viele, viele Millionen Jahre alt. Alle Säugetiere, den Menschen eingeschlossen, reagieren auf Stress in ähnlicher Weise.

Wenn ihr Dackel beim Gassigehen sich plötzlich einem freilaufenden Schäferhund gegenüber sieht, der im Begriff ist sich auf ihn zu stürzen, laufen in seinem Körper dieselben Vorgänge ab, wie wenn sie sich nachts im Stadtpark plötzlich von einer angetrunkenen Gruppe Jugendlicher umringt sehen…

Stress macht sich auf drei Ebenen bemerkbar

Die Einwirkung eines Stressors auf ein Individuum kann Veränderungen in Gang setzen, die sich auf der kognitiven Ebene abspielen, der emotionalen und der somatisch-vegetativen.

Dass Stress dümmer machen kann weiß jeder; die Hemmung der geistig-kognitiven Fähigkeiten eines Studenten in einer Prüfungssituation fällt ebenso darunter wie der so genannte „Black out”, den man erleiden kann, wenn man einer psychischen Ausnahmesituation ausgesetzt ist.

Im affektiv-emotionalen Bereich sind die Auswirkungen seelischer Belastungen vielfältiger: Je nach Situation und Persönlichkeit eines Individuums können z. B. Angst, Depression, Aggression oder Panik auftreten.

Stress hat drei körperliche Phasen

Auf der körperlich-vegetativen Ebene spielen sich aber die mannigfaltigsten Reaktionen ab; man kann sie in drei Phasen einteilen:
Die Alarmreaktion, die erste Phase, aktiviert sich beim Auftreten eines Stressors – sie braust wie ein Sturm durchs Vegetativum. Der aufgepeitschte Sympathikusnerv vollbringt dabei mit einem Schlag eine
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Fülle von Anpassungen:

  • Vergrößerung der Pupillen
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  • Erweiterung der Bronchien
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  • Verminderung der peripheren Durchblutung
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  • Anstieg von Herz- und Atemfrequenz plus Blutdruck
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  • Hemmung der Verdauung und Drosselung des Speichelflusses
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  • Freisetzung von Adrenalin und Noradrenalin aus dem Mark der Nebenniere und dadurch Zuckerausschwemmung aus der Leber, Freisetzung von Fettsäuren aus den Fettdepots, Bronchialerweiterung, verstärkte Durchblutung der Muskulatur, weitere Zunahme von Herz- frequenz und Blutdruck.
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  • Ist die Stresssituation nicht nur ganz kurz, sondern etwas länger, kommt es zu einem Anstieg von Cortisol aus der Nebennierenrinde. Cortisol erhöht den Blutglucosespiegel durch Abbau von Muskulatur und Umwandlung in Zucker.

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In der Phase zwei, der Widerstandsphase, ist eine optimale Mobilisierung der Körperkräfte gegen die Stresssituation erreicht. Nach einer gewissen Zeit kommt es zu einer verstärkten Aktivität des Para- sympathikus – des Parallelnervs im Vegetativum. Die Wirkung des hoch aufgedrehten Sympathikus wird dadurch etwas abgeschwächt. Die Stresshormone Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol sind aber weiterhin im Blut recht hoch.

Langzeit-Stress macht krank

Ist die Stresseinwirkung chronisch, kommt es mit der Zeit zur dritten Stressphase – der Erschöp- fungsphase. In dieser Situation sind die Adaptationsreserven des Organismus verbraucht; energetische Defizite machen sich bemerkbar. Die Nebenniere vergrößert sich allmählich um die Produktion ihrer Hormone zu verbessern. Die hohen Cortisol-Blutspiegel bewirken die bekannten Nebenwirkungen dieses Hormons, die auch oft bei einer Kortison-Behandlung auftreten:

Es manifestieren sich Störungen im körpereigenen Immunsystem mit der Folge, dass gehäuft Infektionen auftreten. Äußerlich kommt es mit der Zeit zu einer Veränderung der Fettverteilung im Körper, verbunden mit einer Gesichtsphysiognomie (Vollmondgesicht) die typisch für die Überaktivität der Nebennieren ist. Im Magendarmtrakt können bei Disponierten Geschwüre auftreten. Durch die Cortisol-Langzeitwirkung kann eine Diabetes-Erkrankung auftreten oder eine Hypertonie (Bluthochdruck).

Ferner kommt es durch Stress und Cortisol-Überschuss im Hippocampus des Mittelhirns, einer wichtigen Schaltstelle für Emotionen und Gedächtnis, zu einer Verminderung der synaptischen Kontaktstellen zwischen den Nervenfasern. Diese neurologischen Veränderungen gehen mit dem Bild einer Depression einher, die man aber durch Antidepressiva gut behandeln kann. Diese Medikamente heben den Effekt des Cortisols auf und lassen wieder funktionsfähige Nervenverästelungen sprießen – allerdings erst nach etwa drei Wochen; solange dauert das Nachwachsen.

Ganz ohne Stress ist ungesund

Jede Überstimulation mit Reizen bedeutet für den Körper eine Stresssituation – auch wenn es sich um positive Reize handelt. Andererseits sind alle Lebewesen durch das Wirken der Evolution daran angepasst, eine bestimmte Dosis Input abzubekommen bzw. zu brauchen. Leben Mensch und Tier in einer zu reizarmen Umgebung verkümmern sie seelisch und dämmern vor sich hin oder zeigen neuro- tische Verhaltensweisen, wie manche Haustiere, die längere Zeit in einer reizarmen Umgebung verbringen müssen.

Ob Menschen auf den einen oder anderen Reiz mit einer Stressreaktion reagieren und ab wann bei jemand eine bestimmte Reizdosis eine Überforderung des Nervensystems zur Folge hat, hängt sehr von den seelischen Eigenarten ab, die ein Individuum hat. Diese Reiz-Reaktions-Muster sind – wie schon mehrfach gesagt – im Laufe der Entwicklungsgeschichte unserer Vorfahren, auch unserer tierischen, entwickelt worden – für Situationen, die mit körperlichen Aktionen und Reaktionen einhergingen.

In modernen Zeiten aktivieren sich diese Notfallprogramme häufig auch dann, wenn gar keine Lebens- bedrohung vorliegt; sie schalten sich ein und entfalten ihr destruktives Potential, wenn wir Menschen in Situationen geraten die unser Selbstwertgefühl und unsere Selbstachtung bedrohen oder die unsere ideellen Werte gefährden.