Die Phobie – evolutionäre Psychologie

Phobien sind Überbleibsel unserer evolutionären Vergangenheit

Fotolia_53588078_XS

So was kann Panik auslösen… ©TeamDaf/ fotolia.com

Nicht nur das Aussehen unserer urtümlichen Umgebung ist als Land- schaftsvorliebe in unseren Genen gespeichert, wie im vorherigen Kapitel beschrieben, auch die Gefahren, die in diesen Lebensräumen einst auf unsere Vorfahren lauerten, stecken uns noch tief in den Knochen und können manchmal die Basis für Ängste liefern, für die sich keine plausiblen Erklärungen finden.

Phobien – Angstneurosen –, wie sie moderne Menschen hin und wieder befallen, erscheinen nur im Lichte des einundzwanzigsten Jahrhunderts als schrullige Spinnereien; in unserer evolutionären Vergan- genheit haben Sie einen sehr realen Hintergrund besessen.

Große Menschenansammlungen, heutzutage bei allen Anlässen gang und gäbe, wirken auf viele Zeitgenossen Furcht auslösend. Alle sollten wir sie eigentlich gewöhnt sein – es kann ja im Grunde nichts Schlimmes passieren – aber viele sind es eben nicht; und das hat evolutionäre Gründe. Unsere Vorfahren lebten, wie schon erwähnt, in Gruppen bestimmter Größe. Jeder war mit jedem bekannt; viele waren eng und freundschaftlich miteinander verbunden.

Fremden–Phobie hat evolutionären Hintergrund

Fremde Gruppen jedoch wurden als Rivalen und Konkurrenten begriffen, mit denen man nicht gerade freundschaftliche Kontakte pflegte – Krieg war in der Urzeit an der Tagesordnung. Fremden begegnete man deshalb mit Misstrauen, Scheu und Angst – aus gutem Grund. Je mehr Fremde einen umgaben, desto intensiver wurden diese Gefühle. Der Ausländerhass, den bestimmte Gruppierungen in der Neuzeit pflegen und schüren, hat im innersten Kern wahrscheinlich eine evolutionäre Basis.

Fotolia_13880685_XS - Kopie

Fremde machen Angst… ©FotoPrisma/ fotolia.com

Noch weiter in unserer evolutionären Vergangenheit zurück reicht eine bestimmte Angst unserer Säuglinge: das Fremdeln. Dieses Fremdeln tritt im Alter von sechs Monaten auf, als Abneigung und Angst vor fremden Männern; viel mehr als vor fremden Frauen. Primaten – vulgo Affen – töten manchmal Neugeborene: Nicht die Mütter – aber fremde Männer; Männchen, die im Rangkampf den alten Alphamann besiegten und vertrieben, um sich dessen Harem unter den Nagel reißen zu können.

Durch das Töten der Kleinen erzwingen sie auf brutale Weise – so schnell als möglich – Eisprünge bei den Weibchen; diese sind nicht lange nachtragend und paaren sich alsbald mit den Mördern ihrer Kinder. Bei den in Rudeln lebenden Löwen hat man ähnliches beobachtet; auch dort herrschen solch barbarische Sitten. Das Ziel des Mörders ist klar: Er, der neue Alphaboss, „möchte” allen Weibchen des Clans seinen genetischen Stempel aufdrücken – zum frühest möglichen Zeitpunkt.

Wenn sich so ein Drama ankündigt, bilden betroffene Affenmütter häufig Allianzen und stehen einander bei – um den drohenden Infantizid abzuwehren; manchmal sogar mit Erfolg. Wenn Affenkinder mit Furcht vor fremden Männern reagieren und sich ängstlich in den Pelz ihrer Mütter verkrallen, kann ihnen das manchmal das Leben retten. Bei unseren Säuglingen werden in der „gefährdeten“ Entwicklungsphase wahrscheinlich diese uralten Programme aktiviert und finden im Fremdeln ihren Ausdruck.

Phobie vor freien Plätzen

Vormenschen unternahmen sicher hin und wieder Streifzüge, die sie in besonders gefährliche Gegenden führten. Das Niemandsland, das als fiktive Demarkationslinie die Grenze zum Feindesland bildete, war am gefährlichsten. Aber auch in heimatlichen Gefilden konnte man auf marodierende Gruppen verfeindeter Stämme treffen. Es war das Gebot der Stunde, sich im Gelände vorsichtig und umsichtig zu bewegen. Schimpansen, unsere nächsten Verwandten, machen das genauso, wenn sie in Gebiete eindringen, in denen sie eigentlich nichts zu suchen haben.
Alles sehen und selber möglichst nicht gesehen werden, war die Devise. Vollkommen klar, dass kein Vormensch, der alle Sinne beisammen hatte, frei und ohne Deckung, unbekümmert über große Flächen marschiert ist; das wäre ja einem Selbstmord gleich gekommen. Lieber nahm man große Umwege in Kauf, um im Schutz von Sträuchern und Bäumen unentdeckt bleiben zu können.
Höhenangst, die sehr viele Menschen befällt, wenn sie ihre Nase über einen Abgrund halten, hat ebenso einen entwicklungsgeschichtlichen Hintergrund: Diese Angst sollte Vormenschen davon abhalten, allzu gefährliche Kraxeleien in luftiger Höhe zu machen.

Phobie vor Tieren

Tierphobien sind unter uns Menschen weit verbreitet


Lauter scheußliche Kreaturen… Bilder von fotolia.com

_______________

Ohne jeden Zweifel stellten Raubtiere in der evolutionären Vergangenheit eine große potentielle Gefahr für unsere Vorfahren da. Aber auch giftigen Tieren, wie Schlangen, Spinnen und Insekten musste man tunlichst aus dem Wege gehen. Wir Menschen haben deshalb über viele Jahrmillionen eine tiefe Abneigung gegen diese Kreaturen entwickelt, die uns davor bewahren soll, leichtfertig mit diesen gefährlichen Tieren in Berührung zu kommen.

Bei einem südamerikanischen Indianerstamm hat man die Todesrate ermittelt, die auf das Konto gefährlicher Tierbegegnungen geht: Etwa fünf Prozent der Ureinwohner werden von Raubkatzen getötet; zehn Prozent sterben an den Bissen von Giftschlangen. Das ist ein ordentlicher Prozentsatz, der noch ganz erheblich höher wäre, hätten Menschen nicht automatisch Programme entwickelt, die dieses Risiko verkleinern.

In einer interessanten, wissenschaftlichen Untersuchung wurden Teilnehmer gebeten, aus einer Vielzahl kleiner Abbildungen möglichst schnell die „gefährlichen” zu identifizieren. Dann wurde der Versuch anders herum gemacht: Die Testpersonen sollten diesmal aus einer Ansammlung von Bildern diejenigen heraussuchen, die einen harmlosen Inhalt darstellten. Das Ergebnis war eindeutig: Die „gefährlichen” Abbildungen – Schlangen, Spinnen, Insekten usw. – wurden sehr viel schneller identifiziert, als die harmlosen in der zweiten Testreihe.

Diese und viele ähnliche Versuche lassen vermuten, dass wir Menschen ein eingebautes visuelles Erkennungssystem besitzen, das bevorzugt auf Strukturen in der Landschaft reagiert, die eine Ähnlichkeit mit gefährlichen Tieren haben. Dies ist evolutionspsychologisch sehr sinnvoll, da es lebenswichtig sein kann, z. B. auf eine kurze, schlängelnde Bewegung im Gras sofort mit Aufmerksamkeit zu reagieren – ohne das Reptil überhaupt zu Gesicht bekommen zu haben. Auch eine Fehlreaktion – ein falscher Alarm sozusagen – wäre biologisch vertretbar, und alle Mal besser, als auf eine Giftschlange zu treten.

Diese Untersuchungen mit den „gefährlichen” Bildchen erbrachten noch andere erstaunliche Resultate: Die wirklich gefährlichen Objekte – für den Menschen der Neuzeit – werden gerne übersehen. Zigaretten, Schusswaffen, Stecktosen usw. werden nicht oder nicht als sonderlich gefährlich identifiziert, obwohl daran viel mehr Menschen zugrunde gehen, als durch Schlangen oder Spinnen. Diese modernen Objekte sind nicht bzw. noch nicht in den Phobie–Index aufgenommen – über den unser Gehirn ohne jeden Zweifel verfügt.

Raubtier–Phobie bei Kindern

Kinder haben anscheinend angeborener Maßen eine Furcht vor größeren Tieren. Dies erscheint biologisch sinnvoll, sind sie als „kleine Menschen” doch leichter in Gefahr als Erwachsene. Kinder scheinen bereits ab einem Alter von drei Jahren über einen „Verstehmechanismus” zu verfügen – einem evolutionär psychologischen Programm – das es ihnen ermöglicht, sich Vorstellungen über den Tod zu machen und über die Tatsache, dass Tiere andere Tiere oder auch Menschen töten, um sie zu fressen.

Um richtig verstanden zu werden: Kinder wissen dies nicht von Haus auf. Sie haben aber die angeborene Neigung, durch eigene Beobachtungen und durch Hinweisen Erwachsener, sehr schnell zu begreifen, dass es in der Natur um Leben und Tod geht und dass ein einmal totes Tier oder ein toter Mensch, für alle Zeiten auch tot bleiben wird und nie mehr lebendig werden kann, und dass man sich daher vorsehen muss, nicht von einem gefährlichen Tier angefallen zu werden.