Agoraphobie – Platzangst – die Online-Beratung

Platzangst – Die Angst vor Straßen und Plätzen

Anwaltskanzlei – dieses Wort kann Katrin deutlich auf dem goldenen Messingschild am Hauseingang gegenüber ablesen. Die Namen der angeführten Juristen sind nicht zu identifizieren, weil die Entfernung zu groß ist. Das spielt für Katrin auch keine Rolle, denn sie ist nicht auf der Suche nach einem Rechtsbeistand.

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Da dreht’s einen… ©yaitza/ fotolia.com

Katrin hat ganz andere Probleme: Sie muss es schaffen, heil über die Straße zu kommen. Das Firmenschild der Anwaltskanzlei dient ihr dabei als Fixpunkt. Ein schneller Blick – links – rechts – die Straße ist frei und los geht’s. Die Augen starr aufs Wort „Anwaltskanzlei” geheftet, tapert sie über die Straße, Schritt für Schritt – wie ein Zombie. Die Strecke zieht sich endlos, denn Katrin macht Schrittlängen wie ein kleines Kind. Der Schwindel, der sie regelmäßig beim Überqueren einer Straße befällt, lässt nur diesen klein-schrittigen Gang zu. Wie auf den Planken eines schwankenden Schiffes fühlt sie sich und genauso unbeholfen überquert sie auch die Straße.

Im Hauseingang der Kanzlei muss sie sich an die Wand lehnen; ihr Atem geht schnell und flach; das Herz rast in der Brust als wollte es zerspringen; der Schwindel wird weniger – Gott sei Dank – sie hat es geschafft. Aber ihr ist speiübel jetzt und die Knie schlottern. Unerbittlich fährt Katrin in letzter Zeit beim Überqueren einer breiteren Straße eine Panik in die Knochen; es ist richtige Todesangst – was sie dabei verspürt.

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Der Sprung über den Abgrund

Colobusäffchen

Colobusäffchen ©duelune/ fotolia.com

Die kleine Horde Colobus Affen angelt gerade in einem stachlichen Busch nach den süßen roten Früchten, als der Überfall beginnt. Lautlos haben sich ihre Todfeinde herangeschlichen – die Schimpansen. Sie sind heute auf der Jagd. Sie wollen Fleisch und sie sind unerbittlich. Colobus Kinder, die ihnen in die Hände fallen, ereilt der Tod gnädig: bei den Hinterbeinen gepackt wird ihnen der Schädel an Baumstämmen zerschmettert.

Erwachsene Tiere werden überwältigt und festgehalten: Jeder der Angreifer versucht einen Körperteil des Unseligen zu fassen; die toll ge- wordenen Schimpansen zerren dann und reißen – bis jeder einen Arm oder ein Bein ausgerissen hat…

Aber noch ist es nicht soweit: Die Colobus rasen in die Wipfel, gefolgt von den schwerfälligen Schimpan- sen, die sich blutrünstig und gnadenlos an die im äußersten Zweigbereich Geflüchteten heranarbeiten.

Lauernder Schimpanse

Ein lauernder Teufel… ©Uryadnikov Sergey/ fotolia.com

Die Mörderbande hält jetzt inne; zu gefährlich wird für ihre massigen Körper das Balancieren in luftiger Höhe; die Zweige sind zu dünn, um bis zu den verängstigten Colobus vorzudringen. Die Schimpansen ändern ihre Taktik: Zu zweit, zu dritt, fangen sie an, die Kronen zu schaukeln. Wie Fallobst haben sie vor die Colobus aus den Wipfeln zu schütteln. Entsetzliches Geschrei bricht aus unter den kleinen Affen – es geht um Leben und Tod!

Ein junges Männchen pendelt wie rasend mit dem Kopf hin und her. Primaten schätzen auf diese Weise Entfernungen ab. Kann es sich mit einem Sprung in die Krone des Nachbarbaumes aus der Gefahrenzone retten oder ist die Sprungdistanz zu weit? Sechs Meter entscheiden über Leben und Tod! Die Sprungkraft zu überschätzen wäre tödlich – das Drama ereignet sich vierzig Meter über dem Erdboden und unten wartet der Rest der Bande auf das Abstürzen der Beute. Die Schimpansen schütteln immer stärker…Panik bemächtigt sich der Affenseele und zwingt den Colobus-Mann zum Handeln und zum Sprung über den Abgrund…

Platzangst hat eine evolutionäre Wurzel

Auf den ersten Blick erscheint es unmöglich, dass die zwei geschilderten Episoden irgendeine Verbindung zueinander haben: Katrins neurotische Ängste im Großstadt-Dschungel eine breite Straße zu überqueren und der Existenz-Kampf einer Primaten-Gruppe im afrikanischen Urwald. Und doch gibt es eine Gemein- samkeit: Die dutzende von Millionen Jahre währende Evolution der Primaten auf unserer Erde.

Alle heute lebenden Affen – einschließlich der Spezies Homo sapiens – haben einen gemeinsamen Vorfahren, der einst einen afrikanischen Urwaldlebensraum bewohnte. Unsere affenartigen Ururahnen lebten auf Bäumen, die ihnen vor ihren zahlreichen Feinden Sicherheit boten. Über viele Jahrmillionen überlebten nur diejenigen, die gut klettern konnten und springen und die exakt darin waren, die Entfernung zum Nachbarbaum abzuschätzen. Sich mit einem Sprung über einen Abgrund zu retten, war das A und das O eines urzeitlichen Primaten.

Schaltkreise aus der Urzeit aktivieren sich

Diese archaischen Reaktionsmuster stecken rudimentär noch immer in unseren Köpfen und können durch besondere Erziehungsmethoden aus ihrer Rumpelkammer hervorgeholt werden.

 

Ängstliche Mütter, die ihre Kinder verunsichern und denen ihre Umwelt dadurch als bedrohlich erscheint, tragen wesentlich dazu bei neurotische Verhaltensweisen bei ihrem Nachwuchs zu fördern.
Treten bei einem Erwachsenen dann Lebenssituationen ein, die mit Ängsten und Unsicherheiten einhergehen, können diese uralten Nervenschaltkreise – die tief im Unterbewusstsein verlaufen – unter Strom geraten und ihr destruktives Potential entfalten.

Auf der Basis von Lebensängsten kann, beim Betreten eines Straßenrandes, scheinbar aus heiterem Himmel, die zu überbrückende Distanz vom Unterbewusstsein als schwer zu bewältigend eingeschätzt werden, weil plötzlich – durch die Aktivierung des archaischen Programms – die Angst aufflackert, den „Sprung über den Abgrund” nicht schaffen zu können.

In anderen Worten: Eine auf ebenerdigem Boden stehende Person erlebt, von ihrem Bewusstsein abgeschirmt, beim Anblick der Straße, die aufflackernden Ängste eines vormenschlichen Primaten, der mit sich kämpft – ob er zum Nachbarbaum springen soll oder nicht. Er wähnt hinter sich einen Feind, der immer näher kommt und vor sich den Abgrund – vielleicht zu breit zum Überbrücken – um sich zu retten.

Die Furcht vor der Straße, die vom Verstand als unbegründet identifiziert wird, wird vom Agoraphobiker durch eine Willensanstrengung niedergerungen, mit dem Effekt, dass der sich einstellende „psychovege- tative Sturm” das Gleichgewichtsorgan überfordert; Schwindelgefühle und zittrige Knie sind die Folge. Zur archaischen Angst „den Sprung nicht zu schaffen” gesellt sich noch die Furcht, in der Öffentlichkeit zu kollabieren.

Ursache und Wirkung verstärken sich bei Platzangst

Wie bei allen psychosomatischen Krankheiten und somatoformen Störungen, verdichten sich auch bei den Phobien Ursache und Wirkung zu einem geschlossenen Schaltkreis – der völlig autonom agieren kann.

Die Furcht vor erneuten Panikattacken verstärkt gewöhnlich die phobische Reaktionsbereitschaft immer mehr. Bei stark betroffenen Personen schränkt sich der Aktionsradius so mehr und mehr ein; in Extremfällen sind sie nicht mehr in der Lage alleine das Haus zu verlassen. Die sich zuspitzenden Ängste lösen chronische Stressreaktionen aus, die den Körper auf vielfältige Weise belasten und so rückwirkend – wie in einem Teufelsreis – die Ausgangslage verschlechtern.

Der Begriff Agoraphobie hat in modernen Zeiten eine Definitionserweiterung erfahren: Man versteht heutzutage darunter eine Angstneurose, die sich an bestimmten Örtlichkeiten festmacht. So wäre definitionsgemäß eine Klaustrophobie – Angst vor engen Räumen – heute ebenso eine Variante der Agoraphobie.

Menschen neigen zu Phobien

Tierphobien sind unter uns Menschen weit verbreitet

Tierphobien: lauter wiederliche Kreaturen… Bildmaterial: fotolia.com

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Sehr viele Phobien – wahrscheinlich sogar alle – haben eine evolutionäre Basis. Lebensprobleme die sich für die Vormenschen bzw. für die vormenschlichen Primaten immer wieder stellten und die mit Todesrisiken einhergingen, wurden ins „evolutionäre Gedächtnis” aufgenommen und als Verhaltensreak- tionen in den Genen festgelegt; sie laufen automatisch ab, wenn die entsprechende Situation sich ergibt.

Im Zoo geborene Schimpansen z. B. reagieren mit Panik beim Anblick einer harmlosen Schlange – obwohl sie keine Schlangen kennen und noch nie mit einer eine schlechte Erfahrung gemacht haben. Das kriechende Schlängeln löst bei der Wahrnehmung Furcht aus – ganz automatisch.

Wenn wir ein halbvolles Speiserestaurant betreten, neigen wir dazu, Sitzgelegenheiten im Wandbereich zu bevorzugen, ohne große Überlegung – ganz spontan – aus einer inneren Eingebung heraus. Tische im Mittelbereich werden erst in Ermangelung „besserer” Sitzgelegenheiten besetzt.

Vormenschen mieden die direkte Überquerung großer Flächen

Freie deckungslose Flächen sind gefährlich… ©totajla/ fotolia.com

Frühmenschen, die bei ihren Lagern sehr auf Deckung und Schutz durch natürliche Geländegegeben- heiten bedacht waren, lebten länger und hatten mehr Nach- kommen als diejenigen, die auf diese Besonderheiten keinen Wert legten. Gene – die diese Vorsichtigkeiten bewirkten – vermehrten sich stark und reicherten sich in den vormenschlichen Populationen an.

Die Platzangst die sich einstellte, wenn Vormenschen weite offene Stellen zu überqueren hatten, hatte einen sehr realen evolutionsbiologischen Hintergrund: In lebensfeindlicher Umgebung bewegten sich Früh- menschen wie auf einem Präsentierteller – wenn sie sich so verhielten.

Die Evolution förderte deshalb Individuen denen es eiskalt den Buckel hinunterlief, wenn sie solche Abkürzungen wählten. Gut und sicher fühlten sie sich – ohne Angst – wenn sie im Schutze des Waldes den Rand einer Lichtung abschritten; so konnten sie nach außen sehen, waren selber aber vor neugierigen Blicken geschützt.

Einprogrammierte Ängste sind heute nutzlos

Unter diesen Aspekten wird verständlich, warum so viele angeborene Reaktionsbereitschaften beim modernen Menschen ins Leere laufen: Die kultivierte Lebensweise im einundzwanzigsten Jahrhundert hat einen Großteil der Gefahren eliminiert, die in unserer evolutionären Vergangenheit existentiell für uns waren.

Während unserer Kinderzeit ist trotzdem eine gewisse Adaptation an die Natur nötig; eine Art Reifungsprozess, der jene angeborenen archaischen Tendenzen durch Gewöhnung in den Hintergrund rücken lässt.
Kinder, denen diese Erfahrungen verwehrt bleiben und die die Natur nur vom Biologieunterricht her kennen, können sie als feindlich erleben – obwohl sie heute weitgehend ungefährlich ist – genauso wie die Evolution es einst für den Vormenschen vorgesehen hat. Hierbei wird ein Grundstein gelegt für mögliche phobische Reaktionen im späteren Erwachsenenalter.

Die angeborene Angst vor gefährlichen Insekten z. B. drückt sich bei einem elfjährigen Stubenhocker dann so aus, dass er an einem Grillabend am See fast ohnmächtig wird vor Angst, nur weil eine Wolke Schnaken seine Nähe sucht.

Eine erfolgreiche Behandlung der Platzangst ist mit einer Verhaltenstherapie sehr gut möglich. In Begleitung eines Psychologen z. B. wird der Patient dann mit seinen Ängsten konfrontiert – um in kleinen Schritten eine Dekonditionierung zu erreichen. Allerdings ist es wichtig – neben der pragmatischen Verhaltenstherapie – im Rahmen einer psychotherapeutischen Behandlung die sozialen Probleme anzugehen, die im Hintergrund die phobischen Reaktionen angeschoben haben.