Probleme der Ernährung – evolutionäre Psychologie

Menschen besitzen bestimmte Nahrungsvorlieben

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Igitt… ©benik.at/ fotolia.com

Ich habe in einem anderen Zusammenhang schon auf das Fressverhalten von Ratten hingewiesen, das von Biologen sehr gut erforscht wurde. Ratten haben evolutionär psychologische Mechanismen entwickelt, die sie davor beschützen, beim Fressen große Dummheiten zu begehen. Stößt eine Rattensippe auf eine neue, unbekannte Futterquelle, ist das Nagervolk sehr, sehr vorsichtig: Nur einzelne der Sippe naschen zaghaft von dem Neuen und warten ab, was passiert.

Wird es ihnen irgendwie übel – in einem gewissen Zeitraum – ist die Futterquelle für sie und für alle anderen „gestorben”, weil keine der Ratten das suspekte Zeug jemals wieder anrührt. Durch das Kosten winziger Futtermengen minimieren sie das Risiko, auf einen Schlag eine tödliche Giftmenge abzubekommen. Das ist ein sehr cleverer Mechanismus, sich unliebsame Überraschungen vom Halse zu halten.

Allesfresser, wie Ratten oder Menschen, sind von derlei Ungemach besonders stark bedroht, nutzen sie doch eine breite Palette unterschiedlichster Nahrung – die immer wieder auch Ungenießbares oder Giftiges enthalten kann. Pflanzen der verschiedensten Gattungen sind schwach bis stark toxisch – eine evolutionäre Anpassung der Pflanzen selber, sich ungebetene Fresser vom Leibe zu halten.

Aber auch Ungiftiges aus dem Pflanzenreich hat unsere Ururahnen krank machen können, wenn es überaltert war, angefault oder schimmelig. Dasselbe trifft auf Fleisch zu, von toten oder angefressenen Tieren – durch den Verwesungsprozess kann es schnell ungenießbar werden. Wir dürfen nicht vergessen, dass Frühmenschen ja kaum Möglichkeiten hatten und kannten, Nahrung gekühlt zu lagern.

Evolutionäre Mechanismen erleichtern Nahrungswahl

So war es für unsere Vorfahren wichtig gewesen, Nahrung, die sie bereits auf der Zunge hatten, einem Schnelltest zu unterziehen, um durch Ausspucken Schlechtes wieder loswerden zu können. Sehr wichtig war es für Frühmenschen außerdem, zwischen energiereichem Futter und weniger nahrhaftem einen Unterschied machen zu können.

Dumm wäre es gewesen, hätten sich unsere Vorfahren den ganzen Tag über wertloses Gras in den Bauch gestopft – in Unkenntnis der energiereichen Früchte und Nüsse – die überall auch in ihrer Umgebung auffindbar gewesen wären.

So ist es nicht verwunderlich, dass die Evolution den Menschen Verhaltensweisen „mit auf den Weg” gegeben hat, die das komplexe Thema Ernährung erleichtert haben: Angeborene Vorlieben für Essbares und Abneigungen – ebenso angeboren – manches lieber nicht in den Verdauungskanal zu befördern.

Im Folgenden sind einige evolutionär psychologische Mechanismen aufgeführt – manche als Theorien –, mit denen der Mensch bestimmte Probleme, die mit seiner Ernährung zu tun hatten, erfolgreich lösen konnte.

Ekel hat eine Schutzfunktion

Überall auf der Welt kennen Menschen das Gefühl des Ekels. Körperausscheidungen von Mensch und Tier rufen Abscheu und Ekel hervor; Spucke zählt dazu und verstärkter noch Schleim – der sehr starken Ekel auslöst. Fauliges Fleisch, verdorbenes Gemüse, verschimmeltes Brot: Jedem Menschen wird es schon übel davon, wenn er sich diese Scheußlichkeiten bloß vorstellt. Haben wir in etwas Verschimmeltes gebissen und den widerwärtigen Schimmelgeschmack im Mund, können wir gar nicht mehr aufhören zu spucken. Die Speicheldrüsen produzieren sofort mehr Spucke, um die eingebaute Mundspülung auf Touren zu bringen.

Interessant ist, dass diese Verhaltensprogramme – manche jedenfalls – kulturspezifisch sind und erst über Lernprozesse aktiviert werden. In Asien und Afrika finden es Menschen ganz normal z. B. Heu- schrecken und Schlangen zu essen, was einem Europäer nicht so ohne weiteres in den Sinn kommen würde. Diese Abneigung ist nicht generell sinnvoll, weil Schlangen und Heuschrecken, als Nahrungsmittel betrachtet, nicht giftig sind und deshalb in den jeweiligen Kulturkreisen als wertvolle Proteinquellen gelten.

Was als eklig angesehen wird oder nicht, lernen Kinder ab einem Alter von etwa zwei Jahren. Darunter passiert es immer wieder, dass die Kleinen sich Sachen in den Mund stecken, bei denen den Erwachsenen das Grausen kommt. Kinder erfahren erst von den Großen, was man in den Mund tun darf und was nicht.

Der biologische Nutzwert all dieser Abscheureaktionen ist klar: Es wird verhindert, dass durch Kontakt oder Schlucken der Mensch mit Giften (Schimmel ist z. B. hochtoxisch), Bakterien oder Pilzen kontaminiert wird. Das Ausspucken, ausgelöst durch Ekel, ist die erste Stufe. Landet etwas Scheußliches versehentlich im Magen, wird durch den ausgelösten Brechreflex das Übel ausgekotzt. Wird der Magen überwunden und erreicht Verdorbenes den Dünndarm, wird die Darmpassage verkürzt und der Inhalt schnell nach hinten befördert. Ausgelöst werden diese durchfallartigen Stühle durch Histamin, einer Substanz, die sich in verdorbener Nahrung durch bakterielle Zersetzung anreichert.

Es ist eine lange bekannte Tatsache, dass viele Kinder eine starke Abneigung gegen bestimmte Gemüsesorten haben. Dies Aversion ist sehr wahrscheinlich keine bloße Zufälligkeit, sondern hat einen tieferen biologischen Sinn: Rosenkohl z. B. und auch Brokkoli enthalten einen bestimmten Stoff, der leicht giftig wirken kann – besonders bei Kindern.

Schwangerschaftserbrechen hat einen Sinn

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Sie kotzt sich zu tot… ©Nobilior/ fotolia.com

Etwa achtzig Prozent aller Schwangeren leiden während der ersten drei Monate ihrer Schwangerschaft an so genannter Morgenübelkeit. Ein Großteil von ihnen erbricht regelmäßig, ohne dass eine tiefer gehende Gesundheitsstörung vorliegt. Es besteht der Verdacht, dass es sich hierbei um einen evolutionären Mechanismus handelt, der in den Genen angelegt ist und der eine Schutzfunktion erfüllt; nicht für die Schwangere selber, sondern für den Fötus in ihrem Bauch.

Das Ungeborene ist in den ersten drei Schwangerschaftsmonaten sehr stark durch Gifte verwundbar, die im mütterlichen Blutkreislauf zirkulieren können. In dieser Entwicklungszeit werden die Gliedmaßen des Embryos angelegt; giftige Substanzen können sehr leicht die Ausdifferenzierung der Extremitäten verhindern und Missbildungen verursachen. Die Übelkeit hat den adaptiven Sinn, die werdende Mama davon abzuhalten, embryotoxische Substanzen aufzunehmen.

Wie oben erwähnt enthalten Kohlsorten Giftstoffe; nicht nur Rosenkohl und Brokkoli. Auch in Früchten wie Äpfeln, Bananen und Orangen sind Gifte enthalten; Kartoffeln enthalten sie ebenso, deshalb sind sie nur gekocht genießbar. Besonders ablehnend reagieren viele Schwangere außerdem auf Fleisch, Kaffee und Alkohol.

Allgemein kann gesagt werden, dass Frauen, die an einer Schwangerschaftsübelkeit leiden, besonders aversiv auf Nahrungsmittel reagieren, die bitter schmecken oder sehr scharf sind. Bitterstoffe weisen immer auf toxische Beimengungen hin. Alle Menschen haben deshalb sehr feinsinnige Geschmacksem- pfindungen entwickelt, was bittere Substanzen anbelangt. Es hat den Anschein, dass der Geruchs– und Geschmackssinn – während der ersten Schwangerschaftszeit – bei den werdenden Müttern übernormal gut funktioniert.

Schwangere mit einer Neigung zu Übelkeit erbrechen meist sofort, wenn sie mit Nahrung konfrontiert werden, die nicht mehr ganz einwandfrei ist. Schwangerschaftserbrechen verhindert, dass toxische Substanzen über den Verdauungskanal den fötalen Blutkreislauf erreichen und den Embryo schädigen.

Leider greifen diese Mechanismen, die sich über Jahrmillionen herausgebildet haben, nur bei Substanzen, die sie evolutionär „erkennen”. Bei Giften der modernen Zeit versagt leider dieser altbewährte Mechanismus; die grässliche Tragödie, mit den vielen missgebildeten Kindern, durch das Schlafmittel Contergan – Substanz Thalidomid – hätte es dann nämlich nie gegeben. Ein guter Beleg für den Sinn dieses Reflexmechanismus ist das Verhältnis von Fehlgeburten zu normal verlaufenden Schwangerschaf- ten. Fehlgeburten ereignen sich bei Frauen mit Schwangerschaftserbrechen in einer Häufigkeit von knappen vier Prozent. Bei Frauen, die von dieser Lästigkeit verschont bleiben, sterben aber über zehn Prozent der Kinder im Mutterleib.