Entwicklung der Sexualität – Die Online-Sexualberatung

Unsere Liebesmuster formen sich in der Kindheit

Entenküken frisch geschlüpft

Entlein erblickt das Licht
der Welt… ©Anyka/ fotolia.com

Wenn ein Tierfreund in einem Brutschrank Enteneier ausbrütet und nach 28 Tagen die Entlein ausschlüpfen, wird er mit einem eigenartigen Phä- nomen konfrontiert: Das Objekt, das ein Entenküken nach dem Aus- schlüpfen aus dem Ei sieht, und das größer ist als es selbst und das sich bewegt, prägt es sich ein und vergisst es nie mehr.

Seit der Biologe Konrad Lorenz für seine Forschungen an Graugänsen den Nobelpreis für Medizin bekommen hat, kennt jeder die Bilder junger Gänsescharen, wie sie im Gänsemarsch hinter dem Forscher herlaufen – egal wohin er sie auch führt.

Tiere lernen sich erkennen

Bei vielen Tieren haben die Neugeborenen keine Ahnung wie ihre Eltern aussehen bzw. ihre eigenen Artgenossen. Das Erkennen der eigenen Art ist nicht in einem evolutionären Gedächtnis abgespeichert – es muss erlernt werden. Die Fähigkeit dazu besitzen viele Tiere bereits bei der Geburt: Ein neurophysio- logischer Mechanismus schaltet sich ein und speichert das Bild der Eltern ab – wie mit einem Schnapp- schuss. Diese Vorgänge laufen in einem relativ kurzen Zeitrahmen ab und sind nicht umkehrbar, d.h. eine einmal abgelaufene Prägung kann nicht mehr rückgängig gemacht werden. Die Plastizität des Gehirns für diese Art des Lernens ist auf eine bestimmte Entwicklungsperiode beschränkt.

Entenmutter mit Küken

Eine lustige Schar… ©jtboldt/ fotolia.com

Dies ist für die jungen Entlein auch total wichtig, denn ihr Leben hängt davon ab, dass sie immer im Gefolge ihrer Entenmama bleiben und sich nicht aus Versehen einmal einer falschen „Mutter” anschließen oder sich verlaufen. Zieht ein Mensch die im Brutschrank geschlüpften mutterlosen Küken auf, prägen sie sich sein Bild für alle Zeiten ein – als Mutter – der man unbedingt überall hin nachfolgen muss.

Das Ganze hat aber noch eine interessante Fortsetzung: Ist das Entlein einmal erwachsen und die Hormonlage im Frühjahr polt es auf Liebe, wird es nach einem menschlichen Gefährten Ausschau halten, denn diesen hält es für seinen Artgenossen. In der Terminologie der Biologie würde das heißen, die Ente ist auf den Menschen sexuell fehlgeprägt.

Nesthocker haben lange Prägezeiten

Sehr viele Tiere sind aber keine Nestflüchter wie die Enten, sondern Nesthocker und bleiben bis sie flügge sind in ihrem Nest oder – wenn es sich um Säugetiere handelt – in ihrem Bau. Bei diesen Tierarten hat es keine Eile Prägungsvorgänge in ganz kurzen Zeiträumen abzuschließen, da hierfür die gesamte Kindheit zur Verfügung steht. Werden gefährliche Raubtiere wie z. B. Tiger mit der Flasche aufgezogen, eignen sie sich später nicht besonders gut als Zirkustiere – obwohl sie stockzahm erscheinen. Da sie auf den Men- schen geprägt sind, lenken sie als erwachsene Tiere einmal all ihre Gefühle auf den Menschen – auch ihre negativen. Sie sind nicht imstande einem Dompteur gegenüber eine gesunde Distanz einzuhalten – was für diesen lebensgefährliche Situationen heraufbeschwören kann.

Menschliche Liebesmuster formen sich

Bei der psychosexuellen Entwicklung eines Menschen laufen in der Kindheit ähnliche Prä- gungsphänomene ab. In einer besonders sensiblen Zeitspanne, etwa zwischen dem dritten und dem achten Lebensjahr, werden unsere sexuellen Vorlieben angelegt; es konfigurieren sich Programme im Gehirn für ein eroti- sches Skript, ein Szenario, das umgesetzt den Erwachsenen später einmal einen maximalen Lustgewinn beim Sex garantiert.

Dieses zentrale erotische Thema ist für jeden Menschen eine individuelle Angelegenheit, weil es mit Situationen in der Kindheit verknüpft ist, die bei jedem von uns etwas anders gelagert sind. Das Roh- material für diese Sexprogramme wird dem Leben der Kinder entnommen – aus Ereignissen, die sich in diesen sensiblen Zeiträumen abspielen; nur sehr selten hat das direkt etwas mit Sexualität zu tun. Wachsen Kinder in Ursprungsfamilien auf, die ein Leben führen das der jeweiligen soziokulturellen Norm entspricht, werden sie Liebes- und Sexualmuster entwickeln, die man als angepasst und normal bezeich- nen würde.

Verhängnisvolle Situationen wirken verhängnisvoll

Geschundene Kinderseelen entwickeln später abnorme Sexualpraktiken

Mein Gott – was mussten die hier wohl alles erdulden?? ………………………………………………………………… ©artmim & Firma V & Svetlana Fedoseeva & SMA Studio/ fotolia.com

.
Müssen Kinder in Elternhäuser aufwachsen, in denen ein ungünstiges emotionales Klima herrscht, wie z.B. exzessive Gewalt oder sexueller Missbrauch, werden diese Horrorszenarien in irgendeiner Weise Eingang in die sich strukturierenden Liebesmuster des Kindes nehmen. Eine einzelne drastische Situation – die ein Kind emotional überfordert – kann ausreichen, die psychosexuelle Entwicklung eines jungen Menschen in eine krass abweichende Richtung zu drängen.

Hat z.B. ein kleines Mädchen einen Missbrauch durch eine Person aus seinem näheren Umfeld erlebt, kann das fatale Folgen für seine weitere geistig-seelische Entwicklung haben und für seine Sexualität – besonders wenn es ihm nicht gelingt sich einer geeigneten Bezugsperson anzuvertrauen.

Da Kinder in der Regel keine adäquate Erlebniswelt besitzen, in die der Vorfall integriert werden kann, um das Ereignis zu verarbeiten, werden sie das Erlebte immer und immer wieder gedanklich durchspielen und sich damit auseinandersetzen. Wenn nicht auf einer bewussten seelischen Ebene so doch auf einer unbewussten und in ihren Träumen.

Diese Verarbeitungsprozesse werden in irgendeiner Weise ihre Handschrift hinterlassen und Nervenver- bindungen im Sexualzentrum konfigurieren, die später einmal beim Erwachsenen bestimmte Situationen und Praktiken als besonders erregend erscheinen lassen oder gegenteilig – die Sexualität eines Menschen auch völlig zerstören können.

So kann ein Missbrauch seine schädliche Prägung z.B. darin zum Ausdruck bringen, dass eine erwachsene Frau bei Sexualkontakten mit Panik und Ablehnung reagiert, während eine andere, mit einer ähnlichen Vorgeschichte, eine Hypersexualität entwickelt – mit einem starken Wunsch nach Schmerz, Dominanz und Demütigung.

Nichtsexuelles wird sexualisiert

Interessant ist die Tatsache, dass eine primär völlig asexuelle Reizeinwirkung als eine Art Prägungs- schablone dienen kann, die bei einem Kind in die neuronalen Schaltkreise Sexualität verarbeitender Hirnstrukturen integriert wird. Unbelebte Objekte (z.B. Schuhe) oder Körperteile (z.B. Füße) mit ursprüng- lich völlig neutralem Charakter, werden durch besondere Lebenssituationen im kindlichen Gehirn in den Rang starker sexueller Stimulanzien erhoben.

Der Erwachsene ist in erotischen Begegnungen dann oftmals gezwungen, seine „Hilfsmittel” zum Einsatz zu bringen, da ohne sie eine genügend starke sexuelle Erregung nicht zustande kommt. Hierunter fallen alle Spielarten des Fetischismus – deren es unzählige gibt. Werden Kinder stark vernachlässigt, was die körperliche Reinlichkeit anbelangt, so können die menschlichen Körperausscheidungen selber fetischisiert werden. Kot wird dadurch unbewusst sexualisiert und spielt später eine wichtige Verstärkerrolle beim Erregungsaufbau.

Erwachsene verspüren die Neigung, beim Liebesspiel körperliche Ausscheidungen zu produzieren, um sie als Stimulanzien einzusetzen. Allgemein kann man sagen, dass alle drastischen und extremen Gefühlsla- gen, denen ein Kind in einer sensiblen Periode ausgesetzt ist, prägungsartige Einflüsse auf das spätere Sexualleben haben werden.

stoller2Einer psychoanalytischen Deutung zufolge werden Kindheitstraumen durch Erotisierung seelisch so umgearbeitet, dass sie emotional keinen Schaden mehr stiften können bzw. der Schaden so gering wie möglich gehalten werden kann.

Die Verwendung eines seelischen Kindheitstraumas als erotischen Motor für einen Erwachsenen stellt einen späten Triumph über das schädigende Agens aus der Kindheit dar; mit dem Preis der ständigen Neuinszenierung – allerdings unter einem völlig anderen Gesichtspunkt.

Robert J. Stoller, ein amerikanischer Psychoanalytiker, war maßgeblich an der Beschreibung dieser Psychodynamiken beteiligt. Hier ist ein Buchtipp für Interessierte: Robert J. Stoller: Perversion – Die erotische Form von Hass.

Objektophilie

Fotolia_52285784_XS - Kopie

The twin towers ©robepco /fotolia.com

Vor kurzem ist eine neue Variante menschlichen Sexualverhaltens bekannt gewor- den: die Objektophilie – die erotische Anziehung, die Menschen zu unbelebten Objekten empfinden. Da ist z. B. eine Frau, die eine starke erotische Anziehungs- kraft zu den Zwillingstürmen des World Trade Centers empfindet; natürlich zu einer Zeit, als die Türme noch existierten.

In ihrem Schlafzimmer, im Wohnzimmer; überall in ihrer Umgebung, auch am Ar- beitsplatz und im Auto existieren Bilder davon. Sie hat sich maßstabsgetreue Model- le anfertigen lassen, mit denen sie spricht als wären es lebende Wesen. Natürlich verzichtet sie nicht auf Hautkontakt zu ihren „Lieblingen”.

 

                     Einer Dampflok verfallen

Objekt der Begierde

©pabl1n/fotolia.com

Ein Mann hat sich bei einem Museumsbesuch unsterblich in eine alte Dampflok verliebt und kann die Zeit kaum erwarten, wieder mit seiner Liebsten vereint zu sein. Solche Menschen haben in ihren Gehirnen Programme entwickelt, die ihnen zu unbelebten Objekten eine anthropomorphe Einstellung ermöglichen und sie dadurch personifizieren.

Im Moment kann man über die Genese dieser Pathologie nur spekulieren, da bisher noch keine Untersuchungen vorliegen. Man könnte sich jedoch vorstellen, das Kinder, in stark deprivatisierten Elternhäusern, in ihrer seelischen Not und Einsamkeit, Zuflucht zu unbelebten Objekten nehmen und ihnen in der Fantasie Leben einhauchen, damit sie jemand „zum Sprechen” haben.

So ist es möglich, dass dingliche Objekte in der Fantasie von Kindern die Priorität von Bezugspersonen einnehmen und dann später bei Erwachsenen die Rolle eines „Sexualpartners”.